Der geheime Name: Roman (German Edition)
Wahrscheinlich nahm er sich ihren Körper, zwang sie in seine Gewalt. So wie sie es beschrieben hatte.
Mora zuckte zusammen, zog die Hände von ihr fort. »Deine Träume … Ich sollte nicht …«
»Doch!« Finas Stimme klang heiser, ihr Gesicht schimmerte blass in der Dunkelheit. »Bleib bei mir! Damit ich mich erinnere, wie schön es sein kann.« Sie fasste nach seinen Händen.
Aber der Moment, in dem alles egal war, war vorüber. Mora blickte über ihre Schulter auf die Hütte. Der Herr würde seinen tiefen Schlaf bald verlassen. Sie mussten zurück, so schnell wie möglich! »Ich wünschte, er würde in den Träumen wieder zu mir kommen. Damit er dich in Ruhe lässt.«
»Nein!« Sie schüttelte den Kopf. »Was er mit mir tut, ist nicht so schlimm. Es sind nur seine Finger …« Sie schluckte, presste die Lippen aufeinander und begann von neuem: »… seine Finger auf meiner Haut. Das halte ich noch eine Weile …« Ihre Stimme versagte.
Als sie weitersprach, brachte sie nicht mehr hervor als ein Flüstern: »Dabei hat er mir versprochen, dass er meine Träume in Ruhe lässt.«
Mora erstarrte. »Er hat es dir versprochen?«
Sie nickte. Verzweifelte Fältchen kräuselten sich auf ihrer Stirn. »Nach dem ersten Traum hab ich ihm gesagt, dass ich es nicht will. Daraufhin hat er versprochen, er werde es nicht wieder tun.«
Der Herr hatte ein Versprechen gebrochen? Mora blickte zur Hütte, seine Gedanken rasten. Wie konnte das sein? »Nichts ist dem Geheimen wichtiger als ein Versprechen. Er tut vieles, was grausam und hinterhältig ist. Aber auf ein Versprechen von ihm kann man sich verlassen. Wenn du sagst, dass er es bricht, dann ist es das erste Mal.«
Fina fing an zu bibbern. Ihre Zähne schlugen aufeinander. »Was bedeutet das?«
Mora starrte noch immer auf die Hütte. Sie mussten zurück! Dringend! Doch plötzlich kroch ein Gefühl durch seinen Körper, das er fast vergessen hatte. Bilder blitzten auf, ließen ihn zurückkehren in die dunkelsten Zeiten seiner Jugend. »Manchmal, wenn es besonders schlimm war, wenn keine Nacht verging, ohne dass er über meine Träume herfiel, dann war er am Tag besonders nett zu mir, beinahe so, als täte es ihm leid. Sein Blick kann so gütig sein.« Mora senkte den Kopf, spürte die Tränen, die unter seinen Augenlidern lauerten. Er hatte es nie gewagt, über diese Zeit nachzudenken, über das, was er gefühlt hatte, was so verwirrend gewesen war.
Erst jetzt wusste er, mit welchem Gefühl es sich vergleichen ließ: Er hatte seinen Herrn geliebt für seinen gütigen Blick, hatte alles in Kauf genommen, was er dafür geben musste.
Aber was hatte der Geheime dabei gefühlt? Wenn Mora jetzt darüber nachdachte … »Ich denke, er wollte gar nicht so grausam zu mir sein. Nur seine Mordlust ist nachts außer Kontrolle geraten.«
Warme Finger berührten seine Wange. Mora fuhr herum, blickte in Finas Gesicht. Er musste sie retten, konnte sie retten. »Vielleicht passiert bei dir das Gleiche. Manchmal schläft er selbst, wenn er uns seine Träume schickt. Vielleicht verliert er im Schlaf die Kontrolle und zieht dich in seinen Traum.« Mora atmete tief ein, hoffte inständig, dass er sich nicht irrte: »Du musst es ihm sagen. Du musst ihn an sein Versprechen erinnern und darum bitten, es einzuhalten.«
»Das kann ich nicht!« Finas Finger zuckten zurück. »Ich kann doch nicht mit ihm darüber reden.«
Mora fing ihre Hand, hielt sie fest. »Versuch es, bitte! Sonst wird er weitermachen.«
Auf einmal änderte sich etwas, ein winziges Geräusch unter dem Rauschen der Blätter, etwas, das sie die ganze Zeit begleitet hatte und plötzlich aussetzte: das Schnarchen des Herrn.
»Wir müssen zurück!« Mora sprang auf, zog Fina auf die Füße.
Ihr Blick fuhr zur Hütte, ihr Körper erstarrte. Auch sie hatte es gehört.
Gleich darauf setzte das Geräusch wieder ein.
Fina entspannte sich. Doch Mora ließ ihr keine Zeit, zerrte an ihrer Hand und lief mit ihr auf die Hütte zu.
Vor der Tür blieben sie stehen, lauschten dem Schnarchen, das unregelmäßig aussetzte.
»Ich gehe zuerst.« Mora flüsterte. »Falls er wach wird, fliehst du und versteckst dich. Nur, wenn er weiterschnarcht, folgst du mir. In Ordnung?«
Fina nickte.
* * *
Es war der längste Moment, den sie je erlebt hatte. Obwohl es sicher nicht einmal eine Minute war, erschien es ihr wie eine halbe Ewigkeit, in der sie draußen wartete und darauf lauschte, was in der Hütte geschah. Das Schnarchen des
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