Der geheime Name: Roman (German Edition)
blieb stehen. Er gab nicht ein Wort von sich, so wie jedes Mal, wenn er wusste, dass der Herr noch in der Nähe war. Stattdessen drehte er sich um und kehrte zu seinem Essplatz zurück.
Es dauerte nicht lange, bis die Tür neben ihm wieder aufflog. »Morasal!« Der Geheime brüllte in die Hütte.
Mora fiel ihm zu Füßen. »Ja, Herr?«
Der Blick des Alten streifte durch den Raum, wich Fina aus und blieb auf ihrem Schlaflager haften. »Räum es die Schlaffelle des Weibchens an einen anderen Platz!«
* * *
Ihr neues Lager lag noch immer auf derselben Seite des Feuers wie die Schlafstätte des Geheimen. Den ganzen Morgen beobachtete sie, wie Mora es nach den Anweisungen des Alten umbaute. Sie hoffte auf jeden Zentimeter zwischen sich und dem Geheimen und zweifelte zugleich daran, dass der Abstand irgendetwas an ihren Träumen ändern würde. Einzig das aufmunternde Lächeln, das Mora ihr zuwarf, wann immer es möglich war, ließ ihr leise Hoffnung.
Als sie sich am Abend zum ersten Mal auf ihrem Schlafplatz zusammenrollte, glitt ihr Blick plötzlich an der Feuerstelle vorbei, ganz knapp nur, und dennoch ausreichend, um Moras Gesicht zu sehen. Seine schwarzen Augen funkelten im Licht des Feuers, sein Mund verzog sich zu einem schelmischen Lächeln.
Ein wildes Gefühl zog durch Finas Bauch, eines, das zu groß war für diesen Moment, das sich kaum begreifen und zuordnen ließ. Sie konnte nicht aufhören, das Funkeln seiner Augen zu betrachten – und plötzlich sah sie wieder die Roma-Jugendlichen in Siena, bemerkte den unbezwingbaren Stolz in ihren Gesichtern. Auf einmal wusste sie, was sie fühlte: Sie bewunderte Mora für die winzige Rebellion, mit der er die Anweisungen seines Herrn umgedeutet hatte, für seine innere Stärke, mit der er immer wieder aufstand, ganz gleich, welche Qual ihm angetan wurde. Und für dieses Lächeln, das tatsächlich frech aussah, obwohl er noch vor wenigen Tagen mit dem Tod gerungen hatte.
Auf einmal fühlte sie sich sicher auf ihrem neuen Lager. Ein breites Lächeln glitt über ihr Gesicht, wollte sich zu einem Lachen formen. Hastig presste sie das Schaffell auf ihren Mund.
Mora legte den Finger an seine Lippen, ließ seine Augen aufblitzen und machte ihr klar, von wem sie in dieser Nacht träumen wollte.
* * *
Tatsächlich ließen die Träume des Herrn sie in Ruhe, ließen ihr Zeit, sich zu erholen – bis sie endlich wieder klar genug denken konnte, um eine Strategie zu entwickeln. Sie musste den Geheimen austricksen. Nur er wusste, ob Mora seinen Tarnkreis verlassen konnte, nur von ihm konnte sie erfahren, wo er das Salz lagerte. Sie musste versuchen, sein Vertrauen zu gewinnen. Vielleicht konnte sie dann das ein oder andere Geheimnis aus ihm hervorlocken.
Ein unwirkliches Gefühl überfiel sie, als sie schließlich anfing, mit dem Alten zu flirten. Eine schützende Glaswand schob sich zwischen sie, als wäre es nur ein Spiel, ein Theaterstück, bei dem sie einer hässlichen Marionette ins Gesicht blicken musste. Wann immer sich eine Gelegenheit ergab, versuchte sie, den Wicht in ein Gespräch zu verwickeln. Sie erklärte ihm, dass sie ihn gerne besser kennenlernen würde, stellte zaghafte Fragen und bekam mit jedem Tag längere Antworten. Bald sprudelte der Geheime vor Eifer, ließ sie ahnen, dass er seine Vorsicht allmählich vergaß.
Es war ein erstaunlich milder Tag, als Fina ihn darum bat, ihr sein ganzes Reich zu zeigen.
Der Geheime war sofort begeistert von ihrer Idee. Er wies Mora an, einen Picknickkorb zu packen – und Fina beobachtete den Alten mit Argusaugen, um zu sehen, ob er irgendwohin ging, um Salz zu holen. Doch sie bemerkte nichts Verdächtiges. Als sie schließlich vor der Hütte standen, um loszugehen, wusste sie nicht, ob er überhaupt welches bei sich trug.
Gut gelaunt sprang der Wicht vor ihr her und führte sie über einen schmalen Pfad. Fina spürte den bevorstehenden Frühling in der lauen Luft, ahnte den ersten Geruch von frischem Grün und lauschte dem Gezwitscher der Vögel, das an diesem Tag so vielfältig klang, als seien Hunderte von Arten aus ihrem Winterschlaf erwacht.
Doch ganz egal, worauf sie ihre Wahrnehmung konzentrierte – am deutlichsten spürte sie Mora, der einige Meter hinter ihnen ging und den Picknickkorb trug. Seit der Nacht, in der sie zusammen nach draußen geschlichen waren, hatte sie kein Wort mehr mit ihm gewechselt, hatte keine Gelegenheit mehr gefunden, um ihn zu berühren. Nur mit ihren Blicken waren sie noch
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