Der geheime Name: Roman (German Edition)
Fina heran, wagte es nicht, sie zu berühren. »Ich wusste immer, dass er unsterblich ist. Er hat stets behauptet, jede Waffe, die auf ihn gerichtet würde, ändere die Richtung und töte den Angreifer. Als du fort warst, hab ich dennoch versucht, ihn umzubringen. Das Messer ist im Flug herumgewirbelt und hat mich fast ins Herz getroffen.« Er hob seine Hand vor die Brust, deutete an, wie er das Messer abgefangen hatte.
Fina starrte auf sein Handgelenk und schien die Narbe im Dunklen zu suchen. Doch gleich darauf lief ein Beben durch ihren Körper, ließ sie zusammensacken, als wäre das Leben aus ihr gewichen.
»Fina!« Mora sprang zu ihr, fiel neben sie und legte die Hand auf ihre Schultern. Ihre hellen Haare wehten im Wind, streiften seine Beine und fanden Ruhe.
Erst im nächsten Moment setzte ihr Atem wieder ein, unterbrochen von einem lautlosen Zucken. Der Schmerz in Moras Brust kehrte zurück, erinnerte ihn an das, was er Nacht für Nacht gehört hatte: ihr Jammern und das Keuchen des Herrn. Auf einmal war auch die Grenze wieder da, ließ seine Hand zurückweichen und hinderte ihn daran, sie noch einmal zu berühren. Was musste es bedeuten, dem Herrn so nah zu kommen, seinem kleinen, hässlichen Körper, seiner verbotenen Stelle, die Mora noch niemals zu Gesicht bekommen hatte? Selbst wenn es nur ein Traum war …
»Was tut er mit dir?« Moras Stimme versagte, ließ nur ein Flüstern übrig: »Was tut er dir in deinen Träumen an?«
Fina fuhr auf, wich zurück gegen den Baum und starrte ihn an. »Woher weißt du das?«
Mora zuckte zusammen. Er hatte die Grenze übertreten, war dorthin vorgedrungen, wo niemand sein durfte.
»Woher weißt du das?«, fauchte Fina.
Es war zu spät. Er hatte die Grenze niedergerissen, war über das Tor zu seinen eigenen Träumen gesprungen. Die Schmerzen fielen über ihn her, das Grauen, mit dem der Herr ihn niederzwang. »Weil er es mit mir auch getan hat.«
Finas Gesicht kam näher, drehte sich in einer Spirale auf ihn zu. »Was? Was hat er mit dir getan?« Ihre Gestalt tanzte unter dem Knallen der Peitsche, unter dem Keuchen des Herrn. Ihre Hände suchten nach ihm, streiften seine Haut, die längst tot sein musste. »Mora! Was hat er getan? Hat er dich vergewaltigt? Missbraucht? Sag es mir!«
Mora schloss die Augen. Vergewaltigt? Missbraucht? »Es versteht ihre Worte nicht.«
Finas Hände erreichten seine Haare, sein Gesicht. »Hat er dich … hat er …« Sie stammelte, hauchte in sein Ohr: »Hat er dich berührt, gestreichelt? An Stellen, an denen es eklig war. Hat er deinen Körper mit seinem genommen – so wie wir es in der einen Nacht getan haben, nur schrecklicher, ohne dass du es wolltest?«
Mora fiel nach vorne, fand Halt an ihrer Schulter. Ihre Hände streichelten seinen Rücken, bekämpften den Schmerz, der darin brannte. »Er hat es nicht … mit seinem Körper … nicht so. Er hat es nur getötet.«
»Er hat was getan?«
Mora tauchte in ihre Haare. »Mit seiner Peitsche, in seinen Träumen. Jede Faser seiner Haut hat er zerrissen, hat Morasal geprügelt, bis es starb.« Er hörte das Fiepen seines Atems, das Heulen und Wimmern, mit dem das Leben aus seinem Körper wich. Es geschah nicht jetzt, nicht hier, war nicht mehr als eine Erinnerung. Dennoch konnte es wiederkehren, jederzeit. »Manchmal hat er es Nacht für Nacht getan, und dann wieder monatelang gar nicht. Aber die Furcht kommt jeden Abend, reißt es aus dem Schlaf, sobald ein Traum beginnt. Morasal hat immer gewusst, wie es sterben wird.«
Warme Hände schoben sich über seinen Rücken, legten sich in seinen Nacken. Das Heulen des Mädchens riss ihn fort aus dem Alptraum, zurück in den kühlen Wald, in die dunkle Nacht …
… die jederzeit zu einem neuen Alptraum werden konnte. Was sie taten, war verboten, ihr Versuch zu fliehen, ihre Hände auf dem Körper des anderen.
Doch auf einmal war es gleich, ob sie starben, solange sie diesen Augenblick erlebten. Mora fühlte ihre Lippen auf seinem Gesicht, fing sie ein und vereinte seinen Mund mit ihrem. Um ihr zu begegnen, hatte er so lange überlebt. Seine Hände streiften ihre Kleidung, gerieten unter ihren Pulli und fanden sich auf ihrer Haut wieder.
Er hatte vergessen, wie sie sich anfühlte, weich und warm, so schmal in seinen Armen, als könnte sie zerbrechen. Jedes einzelne Sterben war sie wert, fast als hätte der Geheime geahnt, wofür er ihn im Voraus bestrafte.
Auch sie träumte von dem Herrn! Plötzlich erinnerte er sich.
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