Der geheime Name: Roman (German Edition)
seinen Trotz beweisen.
»Weiter!« Die Peitsche knallte, wickelte sich um seine Beine und riss ihn von den Füßen.
* * *
Fina schrie auf! Nur gerade so konnte sie erkennen, wie Mora nach vorne stürzte, wie er fiel und hinter dem Körper des Geheimen verschwand. Der Wicht sprang von einem Fuß auf den anderen, verdeckte den Rand des Feldes, die Stelle, an der Mora liegen musste. Nur für eine Sekunde tanzte er weit genug zur Seite, dass sie Mora hätte sehen müssen.
Aber sie fand ihn nicht. Oder doch? Etwas lag dort in einer Feldfurche. Sie konnte nur einen winzigen Streifen davon sehen. Ob es Mora war oder nicht – es war vollkommen regungslos, vielleicht nur eine bräunliche Folie, mit der das Gemüse abgedeckt worden war.
Fina wollte loslaufen, wollte Mora nachrennen. Sie konnte ihn nicht einfach hinter dem Tor sterben lassen – musste wenigstens bei ihm sein und ihm zu Hilfe kommen.
Vielleicht lebte er auch noch. Womöglich hatte der Herr tatsächlich gelogen, und Mora geschah rein gar nichts. Dann könnte sie endlich mit ihm fliehen.
Doch sie kam nicht weit. Der Geheime sprang auf sie zu und ließ sie erstarren. Fina spürte, wie ein schwerer Druck ihre Muskeln lähmte, genau so, wie es in den Alpträumen mit ihr geschah. Der Blick des Alten nutzte ihre Hilflosigkeit und strich über ihr Gesicht, bannte sie an ihrem Platz, während er sich vor sie stellte und ihr erneut die Sicht versperrte.
Nur für eine Sekunde konnte sie die Feldfurche noch einmal sehen. Das, was dort gelegen hatte, war verschwunden.
Fina geriet in Panik. Das Gefühl machte sich in ihrem Inneren breit, ehe der Alpdruck zerplatzte und ihre Muskeln wieder freiließ. Ihr Blick huschte an dem Geheimen vorbei, suchte das Feld dahinter ab, doch jetzt wurde ihre Sicht von den Bäumen verdeckt, die zwischen ihr und dem Feld standen.
Was hatte das zu bedeuten? Konnte Mora auf der anderen Seite einfach verschwinden? In dem Märchen war es so, Rumpelstilzchen löste sich einfach in Luft auf, sobald die Müllerstochter seinen Namen nannte. Wenn für Mora die gleichen Regeln galten wie für seinen Herrn …
Der Boden drehte sich unter ihren Füßen. Der Geheime griff nach ihrer Hand und hielt sie fest.
Fina zuckte zusammen. Plötzlich erkannte sie, wie sein zweiter Daumen glühte, wie er nur wenige Zentimeter über ihrer Handfläche schwebte. Ein Kribbeln strömte aus seinen Fingern, nur eine Vorahnung dessen, was geschehen würde, wenn er seinen Golddaumen auf ihre Haut legte.
Fina schauderte. Sie hielt den Atem an und verharrte so regungslos wie möglich.
Wenn Mora starb, war sie verloren, allein mit dem Herrn.
Fina schloss die Augen. Komm zurück. Bitte komm zurück. Sie stellte sich vor, wie Mora den Grünkohl schnitt, irgendwo dort hinten auf dem Feld, das sie nicht einsehen konnte. Sie sah ihn vor sich, wie er sich hinkauerte und die Kohlblätter anhob, um den Strunk abzuschneiden – bis er den Kohl in Händen hielt und in den Wald zurückkehrte.
Plötzlich hörte sie ein Knacksen, ein gleichmäßiges Rascheln kam durch das Laub auf sie zu – die Schritte eines Menschen.
Fina öffnete die Augen.
Mora stand vor ihnen. Sein Atem ging hastig, so als wäre er gerannt. Auf seinen Armen stapelten sich fünf oder sechs Kohlköpfe.
Finas Knie wurden weich, knickten ein. Sie versuchte, sich zu fangen, konnte gerade noch sehen, wie der Geheime seinen Golddaumen zurückzog.
Mora lebte noch, er war zurückgekommen. Was bedeutete das? Es war wichtig! Fina fiel es schwer zu denken.
Sie konnten das Reich des Geheimen verlassen! Also doch. Zumindest, wenn sie endlich herausfanden, woher sie ausreichend Salz bekamen.
* * *
Der Geheime hielt Fina am Arm zurück, als sie die Hütte erreichten. Er nickte Mora zu und schickte ihn hinein, um aus dem Kohl ein Abendessen zu bereiten.
Mora zögerte, bevor er ging, musterte die Hand, die Fina festhielt, und warf ihr einen besorgten Blick zu.
Fina wich seinem Blick hastig aus. Sie mussten vorsichtiger sein. Der Herr sollte nicht bemerken, wie sie sich ansahen.
Tatsächlich wandte Mora sich ab, nahm den Kohl und verschwand in der Hütte.
Der Alte wartete kaum, bis die Tür ins Schloss gefallen war: »Soll er ihr ein Geheimnis zeigen?« Er trat von einem Bein aufs andere, entblößte seine Zähne in einem aufgeregten Grinsen.
Fina wusste nicht, ob sie ja sagen sollte, ob sie das Geheimnis sehen wollte.
Hatte sie überhaupt eine Wahl? Vermutlich war es das Beste, wenigstens Interesse zu
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