Der geheime Name: Roman (German Edition)
Schaffners irgendein Signal abgeben würde, und dass er sie dann darum bat, mit ihm mitzukommen.
Aber nichts dergleichen geschah. Er bedankte sich nur, wünschte ihr einen schönen Urlaub in Schweden und gab ihr das Ticket zurück.
Als der Schaffner gegangen war, sackte Fina zurück auf ihre Liege und starrte wieder aus dem Fenster. Doch erst, nachdem der Nachtzug die Lichter von Paris hinter sich gelassen hatte, konnte sie glauben, dass ihre Eltern ihre Fährte verloren hatten.
Wenn ihre Mutter die Abrechnungen der Kreditkarten erhielt, würden sie sich bestimmt noch eine Weile mit falschen Spuren beschäftigen. Aber Finas tatsächlichen Aufenthaltsort würden sie daraus wohl nicht mehr schließen können.
Während sie anfing, ihre Liege mit dem Bettzeug zu beziehen, wurde Fina klar, wie selbstverständlich sie inzwischen darüber nachdachte, dass ihre Eltern sie gemeinsam verfolgten. Bis vorgestern war sie noch zusammen mit ihrer Mutter vor ihrem Vater geflohen und sich sicher gewesen, dass in ihrem sonderbaren Leben alles seine Richtigkeit hatte. Doch jetzt hatte sich alles auf den Kopf gestellt, und sie hatte noch immer keinen Plan, was genau aus ihrem Leben werden sollte.
Ob ihre Großmutter sich tatsächlich für sie interessierte, wenn sie aus dem Nichts vor ihr auftauchte?
Während sie sich auf der schmalen Liege zusammenrollte und die Bettdecke über sich zog, fühlte sie sich so einsam wie nie zuvor. Da war sie nun, frei von allen Verbindungen, mutterseelenallein, noch immer auf der Flucht. Und alles, was ihr blieb, war die Hoffnung auf eine Großmutter, die sie nur einmal in ihrem Leben gesehen hatte. Was, wenn diese Großmutter sie nicht bei sich aufnehmen wollte?
Die meisten Ausreißer landeten auf der Straße.
Tränen lösten sich aus Finas Augen und sickerten in das weiße Kissen.
Vielleicht sollte sie diesen Moment fotografieren, ihre Einsamkeit auf ein Bild bannen, um sie zu begreifen. Doch wie ließ sich die eigene Einsamkeit fotografieren? Ein Selbstporträt von einem weinenden Mädchen? Die dunkle Leere eines Zugabteils? Könnte jemand anderes die Einsamkeit aus einem solchen Bild herauslesen? Oder lag es in der Natur dieses Gefühls, dass man auf immer damit allein blieb?
Fina schloss die Augen und lauschte dem rhythmischen Rattern des Zuges. Nur dieses Geräusch drang zu ihr vor, flüsterte ihr zu, als wollte es sie trösten: ratatatam … ratatatam – wie der Rhythmus einer weit entfernten Musik, der sie ganz allmählich in den Schlaf wiegte. Dort unten wartete jemand auf sie.
* * *
Sie ist nicht allein, jemand ist bei ihr, jemand, den es immer schon gegeben hat …
Fina fuhr auf. Ihre Hand wollte sich aufstützen und griff ins Leere. Mit einem schnellen Reflex hielt sie ihr Gleichgewicht und begriff nur langsam, dass sie beinahe aus dem Bett gefallen wäre.
Der geheime Traum! Sie hatte ihren geheimen Traum geträumt. Fina versuchte, sich den letzten Rest davon in Erinnerung zu rufen.
Der Geruch eines fremden Deos wehte in ihre Nase. Direkt neben ihr standen zwei halbnackte Frauen, die sich gerade anzogen.
Sie war in einem Liegewagenabteil. Von draußen schimmerte Tageslicht durch die Vorhänge, und aus dem Gang klangen fremde Stimmen und das Ratschen von Schiebetüren.
Fina beugte sich aus dem Bett, schob den gelben Vorhang beiseite und blickte aus dem Fenster. Der Zug rollte durch eine Landschaft, die von langweiligen Einfamilienhäusern zersiedelt wurde.
»Wir sind gleich in Hannover.« Eine der beiden Frauen sprach Fina an. »Der Schaffner war gerade hier, um uns zu wecken. Fährst du noch weiter nach Berlin?«
Fina starrte nach draußen. Weiter nach Berlin?
Nein, sie musste nicht nach Berlin. Sie musste wohin?
Hannover! Schlagartig war sie hellwach. Sie war angekommen, sie musste aussteigen! Sie wollte weder nach Berlin noch nach Schweden. Hastig sprang sie aus dem Bett. »Nein. Ich muss auch hier raus!«
So schnell es die Enge im Abteil zuließ, zog sie sich an. Nur wenige Minuten später rollte der Zug in den Bahnhof.
Das Gefühl der Flucht griff wieder auf sie über, als sie den schweren Rucksack schulterte, mit dem Paket auf den Armen durch den Gang hastete und schließlich auf den Bahnsteig sprang.
Die Menschen um sie herum sprachen das akzentfreie, saubere Deutsch der Muttersprachler.
Kalte Panik strömte durch ihren Körper. Eine Menschenmenge, die Deutsch sprach – es war ein harter, kühler Klang, der ihr noch nirgendwo untergekommen war! Selbst dann
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