Der geheime Name: Roman (German Edition)
auf. Er hatte sie nicht bemerkt.
* * *
Fina verbrachte die Zugfahrt inmitten der Gruppe von Rucksackreisenden, mit denen sie eingestiegen war. Es war eine bunte Gruppe aus verschiedenen Ländern, die sich zufällig in Marseille zusammengefunden hatte und jetzt nach Paris weiterreiste. Sie alle waren offenbar schon eine Weile durch die verschiedensten Länder unterwegs.
Während Fina ihren Abenteuergeschichten von der großen Weltreise lauschte und die französische Landschaft an sich vorbeiziehen sah, versuchte sie, ein wenig ruhiger zu werden.
Wenn sie Glück hatte, dann war sie in Paris bereits sicher. Zwar würden ihre Eltern ahnen, dass es ihre erste Anlaufstation war, aber in der großen Stadt und auf den vielen Bahnhöfen dürften sie es schwer haben, sie zu finden.
Und dann? Fina lehnte den Kopf an das Nackenpolster ihres Sitzes. Sie brauchte einen Plan, wie sie weitermachen wollte, was sie eigentlich vorhatte. Zu ihrer Großmutter erst mal. Aber sie wollte auch studieren – und dort, wo ihre Großmutter lebte, konnte sie nicht studieren. Also war es wieder nur eine Zwischenstation?
Dabei wollte sie doch nur irgendwo ankommen, irgendwo zu Hause sein.
Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Sie war noch immer auf der Flucht. Sie hatte es noch nicht geschafft. Erst musste sie noch ihre Spuren verwischen.
Fina schloss die Augen und versuchte, sich in die Überlegungen ihrer Mutter hineinzuversetzen. Vermutlich ging sie davon aus, dass sie ein Ziel hatte. Eine frühere Freundin vielleicht, oder einen Ort, an dem sie schon einmal gelebt hatten.
Von den beiden besten Freundinnen, die Fina jemals besessen hatte, wohnte die eine in der Nähe von London und die andere in einem kleinen, schwedischen Dorf in Småland.
Aus Sicht ihrer Mutter kamen die beiden für ihre Zuflucht bestimmt in Frage. Aber ob sie damit rechnete, was Fina wirklich vorhatte? Sie hatten nie über ihre Großeltern geredet. Von den Tagebüchern und den Paketen wusste ihre Mutter nichts, und vielleicht glaubte sie sogar, dass Fina sich gar nicht an ihre Großeltern erinnerte.
Dennoch beschloss sie, noch ein paar falsche Spuren zu legen: Als sie in Paris ankam, kaufte sie mit der einen Kreditkarte ein Bahnticket nach London und mit der anderen Karte eines nach Schweden.
Schließlich war sie zufrieden mit ihrem Fluchtplan. Nur alles, was danach kommen würde, lag noch immer im Dunklen. Ihre Großmutter, studieren … Sie brauchte Geld, um zu leben. Die Kreditkarten konnte sie nicht mehr benutzen, wenn sie am Ziel angekommen war. Also würde sie arbeiten müssen.
Fina schlenderte noch einige Stunden durch Paris, zog hier und da etwas Bargeld aus einem Bankautomaten und stieg am Abend mit ihrem Schweden-Ticket in den Nachtzug Richtung Deutschland. Wenigstens die Hälfte ihres Tickets konnte sie auf diese Weise verbrauchen.
In Finas Viererabteil waren nur noch zwei andere Frauen, die sich nach dem Verstauen ihres Gepäcks in den Speisewagen aufmachten.
Fina kletterte auf ihre unbezogene Liege, legte sich auf den Bauch und blickte aus dem Fenster. Erst als sie ihr Kinn aufstützen wollte, bemerkte sie, wie ihre Hände zitterten.
Eine aufgeregte Frauenstimme rief durch den Gang.
Fina zuckte zusammen. Ihre Mutter!
Doch als die Stimme etwas ruhiger weitersprach, hörte sie, dass es eine Fremde war.
Auch bei der nächsten Männerstimme horchte sie auf. An seinem Tonfall konnte sie hören, dass er jemandem eine Frage stellte.
Sie kannte die Stimme ihres Vaters nicht. Was, wenn er hier auftauchte?
Die Tür ihres Abteils wurde aufgerissen.
Fina fuhr auf, knallte mit dem Kopf an die Decke und brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass es nur der Schaffner war, der zu ihr hereinschaute.
»Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht erschrecken«, erklärte er freundlich. »Ich würde nur gerne Ihre Fahrkarte kontrollieren.«
Fina sprang von ihrem Bett und kramte eine Weile verwirrt in ihrem Rucksack, bevor sie die Fahrkarte fand.
Während der Schaffner die Karte abstempelte, fragte sie sich, ob ihre Eltern eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatten. Und wenn ja, auf welche Weise in Frankreich nach Vermissten gesucht wurde. Wurde überhaupt gesucht? Oder nur, wenn ein Verbrechen vermutet wurde? Immerhin liefen die meisten Menschen freiwillig davon, und Erwachsene konnten schließlich hingehen, wo sie wollten. Aber was, wenn zumindest der Name an alle Bahnhöfe und Flughäfen weitergegeben wurde?
Fast wartete sie darauf, dass das Lesegerät des
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