Der geheime Name: Roman (German Edition)
Gefühl abzuschütteln, doch sie wurde es nicht los. Ihre Großmutter hatte nie auf ihre Briefe geantwortet. Sie hätte es auch gar nicht gekonnt, weil Fina nie einen Absender auf die Pakete geschrieben hatte – damit ihre Mutter nicht von dem Kontakt erfuhr.
Aber jetzt fragte sie sich, ob ihre Post überhaupt angekommen war. Was, wenn ihre Oma nicht mehr hier wohnte? Womöglich war sie eine debile, alte Frau, die längst in einem Altersheim lebte. Vielleicht waren ihre Großeltern auch schon längst gestorben. Irgendeinen Grund musste es schließlich geben, warum ihre Mutter den Kontakt abgebrochen hatte.
Fina kam es fast vor, als würde das Sonnenlicht auf der Seifenblase schillern, in der sie sich bewegte. Die Freundschaft zu ihrer Großmutter war nicht mehr als eine Illusion, eine Projektion ihrer Wünsche. Wenn sie gleich vor ihrer Haustür stand, würde ihre Seifenblase platzen.
Die Hausnummern der Fachwerkhäuser verschwammen vor Finas Augen. Sie lief an blühenden Vorgärten vorbei und bog in einen Feldweg ein, der am Forst entlang aus dem Dorf hinausführte. Der Schatten des Waldes beugte sich über sie, der Wind säuselte in den Zweigen und mischte sich mit dem sprudelnden Rauschen von herabstürzendem Wasser.
Fina erkannte die Mühle von weitem. Hastig wischte sie die Tränen ab und versuchte, das düstere Gefühl herunterzuschlucken. Vor ihr lag tatsächlich die Mühle, an die sie sich erinnerte. Noch dichter als alle anderen Häuser stand sie am Waldrand. Die Äste und Zweige der Buchen neigten sich über ihr Dach, wie eine Mutter, die ihr Kind beschützte.
Ein beklemmendes Gefühl legte sich um Finas Brust, wie eine Kette, die ihr die Luft abschnürte. Der Zustand des Gebäudes war noch schlimmer als in ihrer Erinnerung. Das Dach war an einigen Stellen eingesunken und von Moos überwachsen. Die roten Ziegelsteine, die das Fachwerk ausfüllten, bröckelten auseinander, und die Fensterscheiben waren zerkratzt und milchig.
Der Wohntrakt der Mühle sah noch nicht ganz so schlimm aus, doch der Wirtschaftstrakt, der an den Mühlbach angrenzte, erinnerte an eine Ruine. Manche der Fensterscheiben waren zerbrochen, und in den Dachziegeln klaffte ein Loch, das so aussah, als könnte es jederzeit von den Seiten weiter einbrechen. Auch das alte, hölzerne Mühlrad stand still, zumindest die zerbrochenen Reste davon, an denen der kleine Wasserfall unbeeindruckt herabrauschte.
Einzig eine lange Reihe leuchtender Sonnenblumen vor dem Wohntrakt ließen Fina hoffen, dass in dem alten Gemäuer noch jemand lebte.
Ihr Herzschlag ging schwer, kämpfte gegen die eiserne Kette, während sie über einen grasbewachsenen Weg zur Haustür ging.
Durch eine kleine Glasscheibe konnte sie eine alte Garderobe erkennen, an der ein Mantel und eine Regenjacke hingen. Darunter standen Gummistiefel und robuste Frauenschuhe.
Finas Hand zitterte, als sie den Finger zur Klingel führte.
Im Inneren des Hauses schrillte es, gefolgt von dem Kläffen eines Hundes, der aus irgendeinem Zimmer auf sie zustürmte.
Fina schloss die Augen.
»Rübezahl, aus!« Eine ältere Frauenstimme rief den Hund zur Räson und schien durch den Flur auf sie zuzukommen.
Fina sah wieder durch die Scheibe und erkannte die rundliche Frau sofort. Sie hatte das Gesicht ihrer Mutter – nur dreißig Jahre älter.
Die alte Frau hielt inne, als sie Finas Blick begegnete. Sekunden starrten sie sich an, während das Erkennen über das Gesicht ihrer Großmutter huschte. Schließlich öffnete sie die Tür so langsam, als hätte sie Angst, ihre Enkelin wäre nur eine Illusion, die sich durch eine unbedachte Bewegung in Luft auflösen würde.
Der kleine Hund kam aus der Tür geschossen, wirbelte um Finas Beine und sprang daran hoch.
Fina stand noch immer wie erstarrt da, den Blick weiterhin auf ihre Großmutter gerichtet. Auf dem Gesicht der rundlichen Frau formte sich ein ungläubiges Lächeln. »Josefina?«
Das beklemmende Gefühl löste sich mit einem Schlag, fast konnte Fina hören, wie die Kette klirrend zersprang. »Ja, ich, ich …« Sie stammelte, wollte sich am liebsten hinter dem Paket auf ihren Armen verstecken. »Ich hab ein Paket für dich … und … und … es hätte sich nicht mehr gelohnt, das noch abzuschicken … weil ich sonst vor ihm hier gewesen wäre.«
»Fina!« Der Blick ihrer Großmutter verwandelte sich in ein Strahlen. »Du bist es tatsächlich!« Sie nahm ihr das Paket aus den Händen, stellte es neben die Garderobe und zog
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