Der geheime Name: Roman (German Edition)
Hakennase anoperieren. Versprich mir, dass du ihnen nicht sagst, dass ich hier bin. Bitte!«
Sie hörte, wie ihre Großmutter leise seufzte. Ihr behäbiger Körper erhob sich von der Matratze. »In Ordnung, Fina. Wenn du das nicht willst, dann verrate ich dich nicht. Aber denk bitte noch mal darüber nach. Ich möchte doch auch nicht, dass dir etwas passiert.«
Fina sagte nichts. Sie widerstand dem Drang, sich die Ohren zuzuhalten, und schloss die Augen.
»Gute Nacht.« Ihre Oma öffnete die Tür.
»Ja.« Fina murmelte in ihr Kissen. »Gute Nacht.«
Schon im nächsten Moment war sie wieder allein.
* * *
Fina wollte nichts wissen von einer drohenden Entführung, sie wollte nichts hören von der Angst ihrer Mutter – und schon nach ein oder zwei Tagen brachte ihr Widerstand wenigstens ihre Großmutter zum Schweigen.
Nie wieder würde sie fliehen!
Dennoch kehrte das Fluchtgefühl zu ihr zurück und trieb sie aus dem Haus. Sie musste spazieren gehen, in Bewegung bleiben.
Immer wieder versuchte ihre Oma, sie daran zu hindern. Sie hatte Angst, dass ihr draußen jemand auflauerte. Aber immer, wenn Fina länger als ein paar Stunden im Haus blieb, fiel die Stille über sie her, als wäre sie bereits gefangen genommen. Die Dunkelheit des Waldes drang durch die Fenster herein, schloss sich um Finas Körper und nahm ihr die Luft zum Atmen. Erst, wenn sie wieder nach draußen lief, konnte sie ihre Freiheit spüren. Sie ließ den Wald hinter sich, wich seiner Dunkelheit aus und lief dorthin, wo sie die Weite der Felder schützte, wo sie bis zum Horizont sehen konnte und jeden Fremden schon in der Ferne erblickte. Schließlich nahm sie das Fahrrad ihrer Großmutter, um möglichst weit damit zu fahren. Irgendwann gelangte sie tatsächlich in die Heide, wie ihr Großvater sie gemalt hatte, fuhr zwischen sandigen Hügeln und Tälern und betrachtete die Wacholderbüsche und das violette Blütenmeer der Besenheide. Hier fand sie die Weite der Landschaft, nach der sie gesucht hatte, und ließ sich in ihr treiben, bis sie sich darin verlor. Immer stärker rumorte die Einsamkeit durch ihr Inneres, während ihr Blick den Horizont entlangwanderte und nach etwas suchte, woran sie Halt finden konnte.
Fina versuchte, ihre Gefühle mit der Kamera einzufangen. Sie bog die Landschaft mit einem Weitwinkel in einen unnatürlichen Radius. Sie suchte nach einer Bedrohung im Bild, wartete auf eine Regenfront in der Ferne, nahm ein windgepeitschtes Bäumchen in den Vordergrund und fand als Höhepunkt das Skelett eines Schafes, halb versunken im Sand.
Doch irgendwann kam der Tag, an dem sie die Einsamkeit in der weiten Landschaft nicht mehr aushielt. Also fing sie an, sich das Gegenteil zu suchen. Schon ganz früh stand sie auf und folgte dem Lauf des Mühlbaches zwischen Feldern und Erlen. Im Licht des Sonnenaufganges fotografierte sie idyllische Motive: hängende Weidenzweige über grün leuchtendem Flusswasser, umgeben von rötlichen Nebelschwaden. Fina suchte den Schutz der Dörfer, bannte unzählige rote Fachwerkhäuschen auf ihren Speicherchip und versuchte, die Eigenheiten der Menschen mit ihren Bildern zu ergründen: die blühenden Vorgärten und die buntbemalten Ehrenscheiben, die fast an jedem Hausgiebel prangten und die Schützenkönige der letzten hundert Jahre auswiesen.
Finas Kreise um die Mühle und das Dorf wurden immer enger. Tage und Wochen vergingen, und tatsächlich kam niemand, der sich auch nur im Entferntesten für sie interessierte. Das Fluchtgefühl, das sie zwang, in Bewegung zu bleiben, wurde immer schwächer, bis es fast ganz nachließ. Irgendwann kam der Abend, an dem sie zur Mühle zurückkehrte und die Dunkelheit des Waldes zum ersten Mal ertragen konnte. Ein warmes Gefühl strömte durch ihren Körper. In dieser Nacht saß sie noch lange mit ihrer Oma zusammen, zeigte ihr die neuen Fotos und unterhielt sich mit ihr.
Als sie schließlich in ihr Zimmer ging und sich inmitten ihrer Schätze in ihr Bett legte, war sie glücklich.
Sie gehörte hierher. Endlich hatte sie ihr Zuhause gefunden.
7. Kapitel
E s war ein kühler, grau verhangener Morgen, als Fina beschloss, ihre seltsame Furcht vor dem Wald zu besiegen. An diesem Morgen brach der Herbst so spürbar über die Landschaft herein, dass er nicht mehr zu leugnen war. Doch Fina nahm es als Zeichen, um ihr Dauersommerleben endlich hinter sich zu lassen, um sich endlich der Dunkelheit zu stellen, die so dicht hinter der Mühle lauerte.
Sie stand noch vor
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