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Der geheime Name: Roman (German Edition)

Der geheime Name: Roman (German Edition)

Titel: Der geheime Name: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Winterfeld
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entgegen. Sie war ganz nah, zum Berühren nah, und dennoch besaß sie kein Gesicht.
    Fina schloss die Augen, um das Bild nicht länger zu sehen, blinzelte schließlich und hoffte fast, dass sie sich getäuscht hatte. Doch das Nebelbild blieb das gleiche: eine menschliche Silhouette, die sich schützend die Hände über den Kopf hielt.
    Fina starrte auf die Gespenstergestalt. Sie hatte geglaubt, dass man solche Bilder nur im Internet fand, in irgendwelchen Spukforen, wo sich Mitglieder die größte Mühe gaben, eine hübsche Fotomontage herzustellen. Wie in Trance setzte sie sich auf den Bürostuhl. »Wer bist du?« Sie dachte an den Tag im Moor: an die Wellen im See, an die Erschütterung des Bodens – an den Höhlenjungen, der sie gerettet hatte. Er war echt gewesen, lebendig.
    »Warum bist du unsichtbar?« Ihre Stimme war nur ein Hauch. Mit zitternden Händen klickte sie sich durch die Nebelfotos. Auf dem Bild davor erhob sich der Schatten aus dem See, das Wasser lief in einer großen Welle seinen Rücken herab. Als Nächstes kamen Fotos, auf denen er schwamm, sein graues, konturloses Gesicht knapp über der Wasseroberfläche.
    Selbst auf den Bildern, die sie im Wald gemacht hatte, war er zu sehen: Er stand im Nebel zwischen den Baumstämmen und schien sie zu beobachten, hockte neben dem Eichhörnchen am Wegesrand – und zuletzt tauchte er neben dem Reh auf, das sie fotografiert hatte: ein dunkler Schatten, der den Kopf des Tieres streichelte.
    Fina starrte darauf. Wenn sie nicht so unheimlich wären, wären diese Fotos die besten, die sie jemals geschossen hatte.
    * * *
    Je mehr Zeit verging, desto häufiger fragte Fina sich, ob das alles wirklich geschehen war oder ob sie langsam verrückt wurde. Sie hatte die Fotos auf eine DVD gebrannt und ganz hinten in ihrer Kommode verstaut – aber sie wurde die gespenstischen Bilder nicht los, genauso wenig wie die Erinnerung an den Höhlenjungen.
    Manchmal war sie kurz davor, ihrer Großmutter von dem Jungen zu erzählen. Sie wollte ihr die Fotos zeigen, um endlich zu erfahren, ob dort wirklich ein Schatten zu sehen war.
    Aber wenn ihre Großmutter ihn nicht sehen konnte, dann wäre sie tatsächlich ein Fall für den Psychiater. Also biss sie sich jedes Mal auf die Zunge, wenn ein Geständnis über ihre Lippen kommen wollte.
    Es war Mitte November, als Fina die Ungewissheit nicht länger aushielt. Die letzten Laubreste waren von den Bäumen verschwunden, und der Wald zeigte sich nackt und grau, als sie nach draußen kam. Zum ersten Mal, seit sie bei ihrer Großmutter lebte, schienen die Sommerreserven in ihrem Körper verbraucht zu sein, und sie fror in der Herbstkälte. Ihr Bein war inzwischen geheilt. Doch ihre Muskeln fühlten sich noch schwach an, als sie mit entschlossenen Schritten in den Wald joggte.
    Sie nahm den gleichen Weg wie beim letzten Mal, lief um den Wald herum und rannte schließlich den Wanderweg entlang, der ins Moor hineinführte.
    Ihre Beine wurden immer schwächer, wollten nachgeben und zwangen sie, langsamer zu werden. Ihr Atem ging keuchend, das Blut rauschte in ihren Ohren, während sie die letzten Meter bis zum Grundlosen See lief. Beinahe regungslos erstreckte sich die dunkle Fläche vor ihr. Der Himmel war grau verhangen, aber wenigstens lag an diesem Mittag kein Nebel über dem Sumpf.
    Fina sah sich um, blickte den Wanderweg entlang und suchte in der Ferne. Sie konnte niemanden sehen, und trotzdem wusste sie, dass der Unsichtbare hier war.
    Seltsamerweise war es ein vertrautes Gefühl, eines, das die Angst löste und sie aufatmen ließ. Mit langsamen Schritten ging sie bis zu der Stelle, an der sich der Unsichtbare aus dem See erhoben hatte. Sie blieb stehen, blickte den schmalen Pfad entlang, der zwischen den Torfstichen in das undurchdringliche Moor führte.
    Der Unsichtbare war hier, ganz nah. Sie wusste es – auch, wenn sie ihn weder hören noch sehen konnte. »Wo bist du?«, flüsterte sie.
    Für einen Moment blieb alles still. Fast glaubte sie schon, dass sie sich irrte.
    Doch schließlich spürte sie eine Erschütterung unter ihren Füßen. Der Torfgrund federte, fast wie eine Brücke unter den Schritten eines Menschen – nur viel weicher.
    Der Unsichtbare kam auf sie zu! Fina fühlte das Zögern in seinen Schritten. Sie hörte seinen Atem, so unregelmäßig, dass sie die Aufregung darin wahrnehmen konnte.
    Ganz dicht vor ihr hielten die Schritte inne.
    Fina starrte in die Luft, dorthin, wo sein Gesicht sein musste. Sie wollte

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