Der geheime Name: Roman (German Edition)
Gestalt. Sie wollte nach ihm rufen, damit er sich zu erkennen gab.
Doch wenn er es wäre, müsste sie ihn dann nicht sehen? Sie war in seinem Tarnkreis, er konnte nicht unsichtbar sein.
Fina hielt den Atem an. Das, was hinter ihr herschlich, fühlte sich fremd an, bedrohlich – nur die unteren Zweige der Büsche bewegten sich, machten ihr klar, dass es kein Mensch sein konnte.
Es ist ein Reh, ein Wildschwein, vielleicht sogar das Eichhörnchen. Fina versuchte, sich mit diesem Gedanken zu beruhigen.
Doch ihr Verfolger verhielt sich nicht wie ein Tier: Er blieb hinter ihr, immer im gleichen Abstand. In regelmäßigem Rhythmus raschelten seine Schritte im Laub: Eins, zwei, eins, zwei …
Was auch immer sie verfolgte – es war klein und hatte zwei Beine. Und es war klug, denn es hielt immer dann an, wenn sie lauschte.
Fina lief schneller. Sie musste endlich die Höhle erreichen! Wo war sie nur? Musste sie nicht bald da sein?
Die Geräusche ihres Verfolgers verstummten, als wäre er weit hinter ihr zurückgeblieben.
Etwas Helles schimmerte vor ihr im Wald – Fina erkannte den Findling, der vor der Höhle lag, die dunkle Struktur der Baumwurzel, die Moras Höhle überdachte. Noch etwa hundert Meter, dann hatte sie es geschafft.
Plötzlich setzten die Schritte wieder ein, ein lautes Rascheln, das von hinten auf sie zuraste.
Finas Panik explodierte. Sie rannte los, wurde so schnell, als würde sie fliegen. Ihr Mund öffnete sich, wollte Moras Namen schreien. Doch ihr Schrei steckte fest. Nur ein heiseres Quietschen kam heraus.
Fina erreichte den Findling, den Eingang zur Höhle. Ohne anzuhalten, sprang sie hinein, fiel mit ihrem Rucksack nach hinten und rutschte durch den Erdgang, bis ihre Füße auf etwas Festes stießen. Moras Tür! Er hatte sie fertiggebaut.
Fina versuchte, auf die Füße zu kommen, versuchte, die Tür zu öffnen. Doch sie war verriegelt.
Das Rascheln erreichte den Tunnel.
Fina schrie: »Mora!« Ihre Fäuste trommelten gegen die Tür, ihre Stimme kreischte: »Mach auf! Mach mir endlich auf!«
Plötzlich gab die Tür nach. Fina stolperte in die Höhle, erkannte Moras Gesicht, Sekunden, bevor er sie auffing. Sein Atem streifte ihre Haare, seine Arme hielten sie fest.
Im nächsten Moment sprang er zur Tür, warf sie zu und legte einen Holzbalken davor, dann einen zweiten, einen dritten. Schwere Balken, die er seitlich mit dem Rahmen verkeilte.
Fina starrte darauf. »Was war das?«
Mora drehte sich zu ihr um. Sein Blick sprach von der furchtbaren Gefahr, der sie entgangen war. Doch er sagte kein Wort.
Finas Rucksack fühlte sich so schwer an, als müsste sie darunter zusammenbrechen. Sie öffnete die Schnallen, ließ ihn achtlos auf den Boden fallen. Doch ihre Beine blieben weich, ihre Stimme vibrierte: »Was zum Teufel war das? Es war klein und schnell! Es ist mir gefolgt!«
Moras Blick veränderte sich. Zorn erschien in seinem Gesicht, während er langsam auf sie zukam. »Wie kann sie nur im Dunkeln durch das Moor gehen? Kennt sie denn gar keine Gefahren? Gar keine Angst?« Seine Augen glühten so wild, dass Fina vor ihm zurückwich. »Wie kann sie so leichtsinnig sein? Wie kann sie ihr Leben so leichtfertig ausliefern?«
Fina stieß mit dem Rücken gegen die Höhlenwand. Mora holte sie ein, beugte sich zu ihr. Seine Stimme wurde leise: »Weiß sie denn nicht, wie schwach sie ist? Dass ihr Körper zerbrechen kann? Dass ihre Haut furchtbare Schmerzen fühlt, wenn man sie quält?« Sein Mund berührte ihre Haare.
Fina heulte auf. Sie ließ ihren Kopf gegen seine Schulter fallen. Sein Wollpulli kitzelte an ihrer Wange, seine Arme schlossen sich um ihren Rücken.
Fina konnte nicht aufhören zu schluchzen. Immer tiefer sickerten ihre Tränen in seinen Pulli, bis sie schließlich kaum noch wusste, ob sie vor Angst weinte oder weil sie ihm endlich so nah war.
»Ich …«, flüsterte Mora. »Ich habe auf dich gewartet. Im Moor. Bis zum Dunkelwerden.« Er legte sein Kinn auf ihren Kopf, ließ sie fühlen, wie sein Mund vergeblich nach Worten suchte, bis er in seiner Sprechweise fortfuhr: »Er wollte sie begleiten, wenn sie kommt, wollte sie in keinem Moment allein lassen. Morgen früh wäre er wiedergekommen. Aber wie sollte er ahnen, dass sie sich in der Dunkelheit auf den Weg macht?«
Fina drückte sich noch enger an ihn, lauschte auf die pochende Angst in seinem Herzschlag. »Ich wollte noch heute wieder hier sein – und im Hellen hab ich es nicht mehr geschafft.«
Mora atmete
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