Der geheime Name: Roman (German Edition)
heißt also, er wird es dir noch sagen?« Plötzlich klärte sich der Gedanke, der ihr schon die ganze Zeit im Kopf herumspukte: »Oder will er nur mich?«
Mora starrte sie für eine Sekunde an. Dann schaute er mit konzentriertem Blick zur Decke. »Er ist nicht da, wir können nach draußen. Aber wir müssen schnell sein und immer nach Spuren Ausschau halten. Der Schnee ist frisch. Er wird uns helfen.« Mora sah sie wieder an. »Und du bleibst immer bei mir, Fina. Lass dich nicht von mir weglocken und lauf nicht davon, wenn du Angst hast.« Er atmete tief ein. »Wenn er jagt, trennt er seine Beute von der Herde.«
Fina schauderte. Plötzlich wirkte Moras Blick, als würde er sie zum letzten Mal ansehen. Er kannte seinen Herrn gut, kannte das ganze Ausmaß der Bedrohung – und gab trotzdem nur kleine Stücke davon preis.
»Dein Herr ist kein Mensch, oder?«
Mora zögerte. »So wie du und ich?« Er schüttelte den Kopf: »Nein!«
»Was ist er dann?«, flüsterte Fina.
Moras Blick wurde hart. Er wandte sich von ihr ab, zog die Stiefel an, die sie ihm geschenkt hatte, und band die Schleifen so geschickt, als beherrschte er dies schon seit seiner Kindheit. Dann ging er zur Tür und fing an, sie zu entriegeln.
Während sie hastig ihre Schuhe anzog, holte Mora eine Axt aus der Ecke der Höhle. Er hob den letzten Holzbalken an und winkte sie zu sich. Schließlich zog er die Tür auf, drehte sich zu ihr um und griff nach ihrer Hand. Eine Mischung aus Zärtlichkeit und Schuld lauerte in seinem Blick. »Er ist meine Familie, Fina.«
15. Kapitel
P anische Angst erfüllte Fina, als sie nach draußen traten. Der Waldboden erstrahlte in einem grellen Weiß, und die Luft war klar und klirrend kalt. Kleine Wölkchen stießen aus ihrem Mund, und Moras letzter Satz schrie durch ihre Gedanken. Plötzlich fürchtete sie, dass er sie nach draußen führte, um sie auszuliefern, aus Loyalität zu seiner Familie – um sich selbst freizukaufen und seinem Herrn zu gefallen. Warum sonst sollte er das gesagt haben? Woher sonst sollte die Schuld in seinem Blick rühren? Es würde sogar erklären, warum er in den letzten Tagen so starr gewesen war – weil er diese Entscheidung treffen musste.
Fina wollte ihn danach fragen, wollte ihn anschreien. Doch Mora stand so still neben ihr, dass sie es nicht einmal wagte zu flüstern. Sie wollte sich losreißen und durch das Moor davonlaufen. Aber er hielt ihre Hand so fest, dass sie sich kaum herauswinden könnte.
Groß und aufrecht stand er da, während sein Blick den Wald absuchte. Die Axt ruhte auf seiner Schulter, und seine Muskeln bebten vor Anspannung. Er schien bereit, jeden Moment zu kämpfen und zu töten – und Fina konnte nur noch hoffen, dass er doch auf ihrer Seite stand.
Sie folgte seinem Blick und versuchte, das zu sehen, wonach er Ausschau hielt. Doch alles, was ihr auffiel, war die Asche. Nach dem Brand musste sie überall gewesen sein, aber der Neuschnee der letzten Tage hatte sie überdeckt. Nur unter den Bäumen, wo die Schneedecke dünner war, schimmerte der Schnee gräulich, und das Gebüsch, neben dem bis vor kurzem noch der Holzschuppen und der Erdkeller gestanden hatten, bestand nur noch aus schwarzen Baumskeletten und verkohlten Trümmern. In einem breiten Radius war der Boden schwarz, so als wäre selbst der Neuschnee in der Glut der Asche geschmolzen. Fina starrte auf die Stelle, wo der Erdkeller gelegen hatte – aber von ihm war nur eine schwarze Erhebung übrig geblieben. Offensichtlich hatte er doch gebrannt, vermutlich die Holzkonstruktion, die das Erddach abgestützt hatte.
Mora ging einen Schritt voran und riss Finas Aufmerksamkeit von dem Unglücksort fort. Sie bemerkte, wie er auf den Boden sah und im Schnee nach etwas suchte. Schließlich zog er Fina zu einer seltsamen Unebenheit, die kaum zehn Meter von der Höhle entfernt war. Er hockte sich daneben und wischte den frischen Schnee mit einer lockeren Handbewegung zur Seite. Darunter kamen aschgraue Abdrücke zum Vorschein: von großen, nackten Füßen.
Fina schauderte. Es waren viele Abdrücke, knapp versetzt nebeneinander, als hätte die Person unruhig auf der Stelle getreten.
Moras Blick folgte einer Fährte aus ähnlichen Dellen, die sich von der Höhle entfernte. »Gestern Nacht.« Weißer Atemhauch wich aus seinem Mund. Er stand wieder auf, schaute in die Ferne, als wollte er jeden Winkel des Waldes untersuchen. »Achte auf solche Spuren, Fina. Wenn er kommt, dann werden wir ihn nicht
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