Der geheime Name: Roman (German Edition)
durfte, so lange, bis selbst die angekohlten Kartoffeln verbraucht waren und der Hunger ihn wieder hinaustrieb – bis er dem Geheimen wieder begegnete.
Mora presste die Zähne aufeinander. Er durfte nicht heulen, nicht in ihrer Gegenwart. Stattdessen richtete er sich auf und sah zu Fina hinüber. Das Feuer strahlte auf ihr rußverschmiertes Gesicht, spiegelte sich in ihren Tränen.
Mora wollte zu ihr gehen und die Tränen von ihrem Gesicht wischen, wollte sie mit seinen Lippen aufnehmen und gemeinsam mit seinen eigenen Tränen herunterschlucken.
Er musste sich zwingen, um sitzen zu bleiben.
* * *
Fina starrte auf die schwarzen Kartoffeln in ihrer Hand, konnte sie kaum sehen unter dem Tränenschleier. Ihre Finger zitterten, während sie eine der Kartoffeln nahm und die verkohlte Kruste zerbröselte. Was, wenn sie auch innen verbrannt waren, wenn nichts mehr von ihnen übrig war?
Tatsächlich war mehr als die Hälfte der Kartoffel zu Asche zerkrümelt, ehe sie auf einen weichen, gelben Kern stieß. Fina roch daran, aber unter dem Brandgeruch konnte sie kaum wahrnehmen, ob die gekochte Kartoffel bereits verdorben war oder nicht.
Fina wischte die Tränen beiseite und atmete tief ein, um die Verzweiflung zu besiegen. Schließlich nahm sie die restlichen Kartoffeln, ging zu Mora und legte sie vor ihm auf den Boden. »Viel ist nicht mehr übrig.« Sie zeigte ihm den mickrigen, vom Feuer gegarten Kartoffelrest, den sie bereits von der schwarzen Asche befreit hatte. »Morgen werden wir wieder hungrig sein. Falls man das hier überhaupt essen kann.«
Seine Finger berührten ihre, als er ihr die Kartoffel aus der Hand nahm und sie prüfend an die Nase hielt. »Heute sind sie noch in Ordnung – aber morgen sind sie wahrscheinlich verdorben.« Er biss in die Kartoffel und schien ihren Geschmack zu testen.
Also war alles umsonst gewesen, was sie gewagt hatten? Hieß das, sie würden morgen schon wieder an denselben Punkt kommen wie heute?
Fina betrachtete das Blut auf seiner Wange und die Platzwunde am Ansatz seiner Haare. Schließlich stand sie auf und holte einen Waschlappen und ein Schälchen mit warmem Wasser. Nur eine winzige Hoffnung gab es noch. Sie musste Mora endlich sagen, was sie heimlich geplant hatte.
»Wenn wir einen Moment abpassen, in dem dein Herr nicht da ist: Meinst du, wir haben eine Chance, durch das Moor zu entkommen?« Sie hockte sich vor ihn, tauchte den Lappen ins Wasser und fing an, das Blut von seinem Gesicht zu waschen. »Dann nehme ich dich mit in meine Welt.«
Mora zuckte zusammen.
Fina hielt kurz mit dem Lappen inne, tastete sich dann noch vorsichtiger an seine Wunde heran. »In meiner Welt gibt es genug zu essen und nichts, wovor wir Angst haben müssen.«
Moras Blick streifte sie. Furcht schimmerte darin, bevor er hastig auf die Kartoffeln sah. Er nahm eine davon in die Hand und fing an, die schwarze Kruste zu entfernen. »Ich möchte nicht im Moor sein, wenn er uns jagt.«
Es lag noch mehr in seinen Worten, Befürchtungen, von denen sie anscheinend nichts wissen sollte. Ein dunkles Gefühl zuckte durch Finas Körper, ließ sie vor dem Abgrund straucheln, der sich plötzlich vor ihr auftat.
Auf einmal begriff sie, dass sie bislang auf diesen Ausweg gehofft hatte. Nicht nur gehofft, sie hatte darauf vertraut und immer geglaubt, dass die passende Gelegenheit irgendwann kommen würde, um mit Mora zu fliehen.
Nur deshalb hatte sie tagelang so ruhig hier unten gesessen und ihm etwas über ihre Welt erzählt – beinahe so, als wäre es ein Spiel, aus dem sie jederzeit aussteigen konnte. Es war nicht schlimm gewesen, ein paar Tage zu hungern und zu frieren, denn ihre Welt war nur einen Katzensprung entfernt, und ihre Großmutter wartete nur darauf, sie beide mit einem warmen Essen und einem Kaminfeuer wieder aufzupäppeln.
Doch das Spiel endete in diesem Moment, ließ sie besser gesagt begreifen, dass es nie ein Spiel gewesen war. Die Kreatur da draußen war zwar unsichtbar, aber alles andere als fiktiv. Falls sie im Moor gejagt wurden, könnte ihr Weg tödlich enden, und wenn sie weiterhin nichts zu essen bekamen, würden sie ganz real verhungern.
Ihre Welt war nur einen Katzensprung entfernt – und doch unerreichbar.
Fina biss sich auf die Unterlippe. Sie versuchte, die Tränen herunterzuschlucken, während sie das Wasserschälchen auf den Boden stellte. Ihr Blick fiel auf die Kartoffel, die Mora ihr reichte und die er inzwischen von der verkohlten Hülle befreit hatte. Fina
Weitere Kostenlose Bücher