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Der geheime Name: Roman (German Edition)

Der geheime Name: Roman (German Edition)

Titel: Der geheime Name: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Winterfeld
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nahm sie entgegen und versuchte, den letzten Ruß abzuwischen. Aber es gelang ihr nicht besonders gut, und schließlich probierte sie trotzdem davon. Die Kartoffel schmeckte nach Rauch und ein wenig verbrannt. Aber die weiche Masse bezähmte das Brennen in ihrem Magen.
    Auch Mora kaute mit langsamen Bewegungen auf einer Kartoffel. Doch anstatt sich weitere Kartoffeln zu schälen, rollte er sich auf seinem Lager zusammen. »Liest du mir was vor?«
    Fina beobachtete sein Gesicht, wie er mit offenen Augen ins Feuer starrte. Er sah noch immer schön aus, sie waren noch immer zusammen in dieser Höhle – und schließlich spürte sie, wie ihre Hoffnung wieder aufkeimte. Eine verzweifelte Hoffnung, die ihren letzten Ausweg in der Verdrängung suchte.
    * * *
    Dieses Mal entschied sie sich für ihr Märchenbuch. Zum ersten Mal holte sie es aus ihrem Rucksack und las von Dornröschen und Schneewittchen, von Hänsel und Gretel und dem Tapferen Schneiderlein. Eine ganze Weile lag Mora regungslos auf seinem Lager und beobachtete sie. Als sie den Froschkönig vorlas und die Prinzessin gerade ihre goldene Kugel im Brunnen verloren hatte, stand er auf und ging zu seinem Kessel. Er schöpfte Wasser heraus und verteilte es in zwei goldene Becher. Fina hörte auf zu lesen, als ihr plötzlich bewusst wurde, wie übermächtig ihr Durst war. Doch Mora blieb am Kessel stehen, starrte in das Wasser und streckte seinen Arm hinein. Als er ihn wieder herauszog, hielt er eine goldene Kugel in der Hand.
    Ein Lachen hüpfte aus Finas Mund. Sie starrte in ihr Märchenbuch, auf die Prinzessin mit ihrem goldenen Spielzeug, hob ihren Kopf und sah zu Mora, der mit dem goldenen Ball und dem goldenen Becher auf sie zukam.
    Mora stellte keine Fragen zu den Märchen. Er brauchte keine Fragen zu stellen. Es war seine Welt.
    Er reichte ihr den Becher, und sie trank gierig, leerte ihn und blickte auf die goldenen Kugeln, die noch immer überall herumlagen. Was auch immer Moras Herr war, er warf mit goldenen Schneebällen um sich.
    Mora behielt die Kugel in der Hand, ging zu seiner Truhe und holte etwas heraus. Während er sich mit dem Gold und seinem feinen Werkzeug auf sein Lager setzte, las Fina weiter. Nur aus den Augenwinkeln beobachtete sie ihn, wie er anfing, die Goldkugel zu bearbeiten.
    Eine seltsame Aufregung kribbelte durch ihren Bauch. Sie hatte noch nie gesehen, wie er seine Figuren schnitzte. Nur nach dem Aufwachen hatte sie manchmal einen feinen Goldschimmer auf dem Boden bemerkt, immer dort, wo Mora gesessen hatte. Auch jetzt wirbelte der Goldstaub um ihn herum, während er feilte und ritzte und so aussah, als würde er ganz in seiner Tätigkeit versinken.
    Fina wollte ihn nicht ablenken, wollte seinen Frieden nicht stören. Also las sie immer weiter. Von armen Mädchen, die in einen Turm gesperrt oder von ihren Stiefmüttern gequält wurden, bis der Prinz kam, um sie zu retten. Oder von armen Handwerkersöhnen, die es schafften, das Herz der Prinzessin zu erobern. Sie las vom ersten Kuss, vom Heiraten und vom Glücklichsein bis an ihr Lebensende.
    Als sie schließlich die Mär von der armen Müllerstochter vorlas, die dem König Gold spinnen sollte, klopfte ihr Herz immer hastiger. Auch Mora schien immer schneller an seiner Figur zu feilen, während das Mädchen Hilfe von einem kleinen Männlein bekam. Rumpelstilzchen rettete ihr Leben, verhalf ihr und dem König zu großem Reichtum und ließ sich im Gegenzug ihr erstes Kind versprechen. Fina wurde schwindelig, während sich die Worte Gold und Kind und Männlein in ihrem Mund verhedderten. Sie starrte auf die nackten Füße des gezeichneten Wichtes und zählte heimlich seine fünf Zehen.
    Rumpelstilzchen bekam die Tochter der Königin nicht – aber was hätte er von dem Mädchen gewollt?
    »Eine Sache verstehe ich nicht.« Damit unterbrach Mora ihre verwirrten Gedanken. Er sah sie mit weit geöffneten Augen an. »Am Ende der Märchen küssen sie sich immer. Sie heiraten und werden glücklich. Was ist damit gemeint?«
    Fina lachte auf und starrte Mora an. Sein Anblick brachte sie völlig durcheinander, stieß die dunkle Ahnung zurück in den Abgrund, von wo sie gerade heraufgeklettert war.
    Mora glänzte und funkelte im Schein des Feuers. Seine Hände, seine Jeans und sein Pulli waren überzuckert von feinem Goldstaub.
    Fina legte das Buch zur Seite und ging auf ihn zu. Seine Fragen schwirrten durch ihren Kopf, suchten sich von ganz allein eine Antwort: »Menschen küssen sich auf die

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