Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Geheime Orden

Der Geheime Orden

Titel: Der Geheime Orden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Smith
Vom Netzwerk:
geschminkte Lippen, die aussahen, als würden sie im Dunkeln leuchten, wenn man das Licht ausschaltete. Sie schaukelte hin und her und starrte dabei an die Decke, während er an seinem Schreibtisch saß und ein Buch las. Von ihrem Körper konnte ich nicht viel erkennen, doch sie schien schlank und auf konventionelle Art hübsch zu sein. Weg mit der Brille und ein paar enge Jeans, und schon wäre sie ein echter Leckerbissen. Ich war überrascht, weil es das erste Mal war, dass ich Percy mit einer Frau sah, die vielleicht etwas anderes mit ihm vorhatte als gemeinsam zu lernen oder über irgendeine historische Auseinandersetzung zu debattieren. Vielleicht deutete ich ein bisschen zu viel in die Situation hinein, aber die Frau hatte diesen Blick …
    Da ist noch etwas, das ich zu erwähnen vergessen hatte. Percy ist nicht gerade der charmanteste oder libidinöseste Typ, den man sich vorstellen kann. Er kann zwar freihändig über die Meister der klassischen Musik extemporieren und über die Vorteile eine Zweiparteiensystems, aber wenn das Gespräch auf etwas Zeitgenössisches kommt – Sport, Filmstars oder Frauen –, ist er so beredt wie ein Stück Holz, das den Fluss hinuntertreibt. Seine Eltern hatte ich nie kennen gelernt, aber ich sah ihre in Mahagoni gerahmten Fotos auf seinem Schreibtisch. Percys Vater im schicken Smoking, seine Mutter im eleganten Ballkleid – so standen sie mit langstieligen Champagnergläsern in den Händen in extravaganten Räumlichkeiten und plauderten mit anderen alten und reich aussehenden Personen, die durch ein Übermaß an Floridas Sonne fast so dunkel aussahen wie ich. Dort, sagte Percy, überwintere seine Familie.
    Schon in der ersten Woche des Semesters hatte ich beschlossen, Percy als sozialen Außenseiter zu betrachten. Er litt daran, »alt in der Seele« zu sein, wie Leute aus meiner Gegend es nennen; damit sind junge Menschen gemeint, die sich verhalten, als wären sie sehr viel älter. Percy lief durch die Gegend und stieß vielsilbige Worte hervor, die wir anderen nicht einmal buchstabieren konnten – und eigentlich auch nicht wollten. Seine Jugend war eine einzige große Generalprobe für die Rolle seines Lebens: reich und alt zu werden. Ein weiterer Hollingsworth, der seinen Abschluss in Harvard gemacht hatte und dann seinen Sitz in irgendeinem philanthropischen Stiftungsrat einnimmt. Sein Name würde in neue Museums- und Internatsflügel gemeißelt. Seine Kinder würden unweigerlich nach Andover oder St. Paul’s oder Choate gehen, bevor sie ihr Geblütsrecht wahrnahmen und in Harvard studierten. Damit würde der Kreis der Privilegien sich ein weiteres Mal schließen. Doch trotz all seinem materiellen Reichtum lag etwas Trauriges über Percy und seiner Unfähigkeit, sich normal gegenüber jemandem zu verhalten, der nicht dinierte, überwinterte oder eine Sommerresidenz besaß. Er konnte einfach nicht begreifen, wie wir restlichen armen Seelen »mit so wenig auskamen«.
    Ich klopfte an seine Tür. »Ich gehe zum Abendessen aus«, sagte ich in der Hoffnung, dem Mädchen auf seinem Bett vorgestellt zu werden. Ich war neugierig.
    »Viel Spaß«, sagte Percy und sah noch nicht einmal von seinem Buch auf. Er drehte wieder an dem verdammten Ring an seinem kleinen Finger.
    »Ich komme spät nach Hause.«
    »Kein Problem. Aber denk an die Tür, wenn du zurückkommst.«
    Unsere Eingangstür besaß eine starke Feder, die sie mit lautem Knall zuzog, wenn wir vergaßen, uns mit der Schulter dagegen zu stemmen. Es war ein Knall, der Scheiben erzittern und jeden hochschrecken ließ. Allerdings störte es Percy mehr, da sein Schlafzimmer näher an der Eingangstür lag. Deshalb vergaß ich schon mal, die Tür abzufangen, wenn ich mich über Percy geärgert hatte.
    Ich warf einen letzten Blick auf das Mädchen, das mir ein Lächeln schenkte. Sie war sicher sehr geschickt darin, den alten Percy ein bisschen lockerer zu machen. Ich war versucht, mich ihr vorzustellen, besann mich aber eines Besseren und nickte ihr kurz zu, bevor ich meine Einladung ins Jackett stopfte und mit einem Schulterstoß durch die Tür hinauspolterte.
    Eine angenehm frische Brise wehte die Mt. Auburn Street hinunter. Endlich war es Herbst geworden, die beste Zeit in Cambridge. Die Blätter nahmen bei ihren letzten Atemzügen spektakuläre Töne von Rot und Gelb an, und der Efeu, der die alten Ziegelfassaden im Würgegriff hatte, ließ den Campus noch älter erscheinen als die vielen Jahrhunderte, die er ohnehin schon

Weitere Kostenlose Bücher