Der geheime Vortrupp – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Inspektor-Appleby-Serie (German Edition)
nicht aus und blickte doch noch einmal zurück. Ein hoch aufgeschossener Mann im grauen Tweedanzug kam mit großen Schritten an den Nebengebäuden vorbei zu der Stelle hin, an der sie und Dick sich versteckt hatten. Er ging eilig, aber er lief nicht, und sie vermutete, daß er den Kammpfad hinauf zur Kate nehmen würde. Wenn er erst einmal auf dem Pfad war, verlor sie ihre Deckung; ein Blick nach links würde genügen, und er konnte den ganzen Felsrücken überblicken, der sie vor dem Haus verbarg.
Sie legte sich flach auf den Boden, steckte die Beine zwischen die Heidepflanzen, zerrte an einem Busch, bis sie ihn ausgerissen hatte, und legte ihn sich über den Rücken. Mehr konnte sie nicht tun. Sie hatte noch Dicks Regenmantel, aber der steckte im Rucksack, und sie konnte nicht riskieren ihn herauszuholen. Sheila lag da und verfluchte sich dafür, daß sie für die Fahrt ihr dunkelblaues Flanellkostüm angezogen hatte statt heidefarbenem Tweed oder dem Grau des Mannes, der nun den Hügelkamm erreicht hatte.
Dann wußte sie, was zu tun war. Zum richtigen Zeitpunkt mußte sie auf die andere Seite wechseln und lieber riskieren, daß sie vom Haus aus gesehen wurde. Sie wartete, richtete sich auf, lief. Als verstecke sie sich vor einem wütenden Stier hinter einem Heuhaufen. Das Haus war nun unmittelbar vor ihr. Der Mann war nicht mehr zu sehen. Aber wenn er höher stieg, was sah er dann? Sheila konnte es nicht abschätzen und spürte das, was man nur die ersten Anzeichen von Panik nennen konnte – entweder das oder sie verlor den Verstand. Sollte sie sich verstecken, sollte sie weiter voranschleichen, in dieser gebückten Haltung, von der ihr der Rücken wehtat? Oder sollte sie laufen und Land gewinnen, zu der dunklen Ecke im Moor, die Dick ihr als Zuflucht gewiesen hatte? Und dann packte sie wieder die Panik, Panik darüber, daß es ja nur eine einzige, naheliegende Antwort gab und daß sie sie nicht gesehen hatte. Die Antwort lag nahe, weil das Haus so nahe lag – das Haus mit seinem Dutzend Fenstern, und hinter jedem davon konnte ein Beobachter stehen. Davor konnte sie sich nicht verstecken – sie konnte nur fliehen. Sie zog ihren kurzen Rock bis hoch über die Knie und lief.
Sie lief, sie hüpfte, eine willkürliche, ungeordnete Fortbewegung, wie sie eben die Heide erforderte. Und je schneller sie lief, desto mehr erwachte im Moor, das so still gewesen war, als sie noch auf dem Boden gelegen und gehorcht hatte, ein Gewirr aus vielstimmigen Lauten. Irgendwo hinter ihr rief eine Männerstimme einen Namen; aber es war der gleiche Name, den weit vor ihr in der Ferne auch die Kiebitze riefen. Fast vor ihren Füßen flog eine Fasanenfamilie auf; das Surren ihrer Flügel, wie Autoreifen auf Asphalt, wurde sogleich übertönt vom aufsteigenden, pulsierenden, dann wieder fallenden Ruf eines Brachvogels, der vorbeistob wie eine Ambulanz, ein Feuerwehrwagen hoch oben am Himmel. Blind rannte sie voran, sah nur das Ziel, den Schutz in der Ferne. Und in einem Dutzend verschiedener Tonhöhen blökten unsichtbare Schafe wie die Hupen mürrischer Autofahrer, denen eine ungeübte Frau den Weg verstellte. Sie lief schneller, leichtfüßiger; zu schnell lief sie, denn der Verstand lief schneller als die Füße, lächerlich schnell, denn die Schafe blökten nicht mehr, sie lachten sie aus. Das Lachen wurde lauter. Es lief neben ihr her. Jetzt packte es sie an den Füßen, und sie stürzte nieder, halb auf der Heide und halb in dem plätschernden Bach.
Der Bach murmelte. Kein anderer Laut war mehr zu hören. Mit einem unnatürlich abrupten Bruch hatte das Blöken der Schafe aufgehört, wie ein Geräuscheffekt in einem Film: sie war an der tiefen Stelle angelangt, in der Rinne, die der Bach gefräst hatte und in der sie abgeschnitten war von allem Treiben oben auf dem Moor. Sie lag im kühlen Schatten; hier unten gab es noch Nebelschwaden – Versprengte der geschlagenen Armeen der Morgendämmerung. Sie richtete sich auf und kam mit dem Kopf ins Sonnenlicht. Vor ihr lag das verborgene Tal, an dessen Boden der kalte, bernsteinfarbene Strom nach Osten floß.
Sheila trank, dann ging sie in raschen Schritten weiter. Sie mußte noch weit besser werden als das. Ihr Körper war bei bester Gesundheit, und selbst mit benommenem Kopf konnte sie den ganzen Tag auf den Beinen bleiben. Sorgen machte ihr eher ihr Verstand, denn der war nicht gut genug trainiert – war nie für diese Art von Aufgabe trainiert worden. Höchstens im Mutterleib,
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