Der geheime Vortrupp – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Inspektor-Appleby-Serie (German Edition)
Land zersetzen. Keiner könnte mehr sicher sein, ob er seinem Nachbarn trauen kann.«
Schweigend stolperten sie weiter; offenbar dachte Hetherton eine ganze Weile darüber nach, bevor er antwortete. »Nein, Miss Grant.« Er zögerte. »Nein, Sheila; nicht ganz. Das Mißtrauen würde zunehmen, und das wäre tragisch, das ist wahr – tragisch, weil es in so vielen Fällen unbegründet wäre. Aber wir trauen einander mehr, als Sie denken.« Er lachte. »Lassen Sie uns lieber überlegen, ob das Benzin und die Weizenernte reichen.«
Einen reifen Verstand nannte man so etwas, dachte Sheila – und seine Überzeugung war ihr ein Trost. Sie kehrte zu den anstehenden Aufgaben zurück. »Der einsame Born«, sagte sie, »ist Ihnen dazu etwas eingefallen?«
»Ich fürchte nein. Ich kenne mich recht gut in der Gegend aus, und ich wüßte nichts, worauf die Beschreibung paßt. Aber das ist wahrscheinlich gerade das Entscheidende daran. Ihr Vers gibt eine exakte Lagebeschreibung, und das wäre ja nicht nötig, wenn der Born ohnehin zu sehen wäre. Es könnte jede kleine Quelle in den Hügeln vor uns sein. Wären wir in Castle Troy und hätten eine Landkarte, dann könnten wir wahrscheinlich eine Linie ziehen, an der sie liegt. Und da wir ja auch die Entfernung kennen, könnten wir den Bereich einengen. Hätte man die Quelle, wüßte man, daß eine Meile westlich oder östlich davon eine Hütte steht, in der Rodney Orchard haust. Etwas in dieser Art.«
»Stimmt.« So weit war Dick Evans auch gekommen. Und beim Gedanken an Dick Evans sank Sheila der Mut. Er hatte sich auf etwas eingelassen, von dem er wußte, daß es Irrsinn war, und der Irrsinn hatte ihn verschlungen. Oder doch nicht? Sie hatte ihn zuletzt gesehen beim Sturm auf die feindliche Zitadelle – die sich dann lediglich als Vorposten erwiesen hatte. Mehr wußte sie nicht.
»Es wird Tag«, sagte Hetherton.
Sie hatten den See hinter sich gelassen und stiegen eine spärlich bewaldete Anhöhe zu den unteren Rängen des Windvogels hinauf. Was Hetherton als Tagesanbruch sah, war – erstaunlicherweise – nicht die Morgendämmerung des Städters; es war ein Begriff, wie ihn jemand hatte, der viel draußen war, etwas, das eher ein Gespür war als eine Reaktion auf die Lichtverhältnisse – als wäre die Nacht etwas Greifbares, das nun allmählich an ihnen vorüber nach Osten hin gedrängt wurde. Man roch es, die Stille schien einen Moment lang noch tiefer als zuvor, die Nacht war schwärzer, so wie das Dunkel, in das ein einzelner Lichtstrahl fällt. Dann erwachte die Welt ringsum, von weit aus dem Norden kam ein Hahnenschrei, am Himmel ein bleicher Lichtschimmer, ein Goldstreif. Das ist, dachte Sheila, der letzte Tag dieses Abenteuers.
Sie gingen durch offenes Heideland, leicht auszumachen, leicht angreifbar. Aber vielleicht kamen sie ja, wie Hetherton versprochen hatte, wieder in waldigere Gegenden, bevor es heller wurde. Sheila überlegte, wie Fortmoil aussehen mochte. Sie hatte den Namen noch nie gehört. Was hatte man dort der fremden Macht, die sie umgab, entgegenzusetzen?
Ein diffuser Horizont stand vor ihnen – der Kamm des Hügels, den sie erklommen. Abrupt sank er tiefer und war verschwunden; sie standen oben und blickten auf eine Wasserfläche, deren anderes Ufer eben erst aus der Dämmerung auftauchte. Es war ein kleiner Loch – ein Teich eigentlich nur –, über dem Morgennebel hingen wie die Gespenster längst vergessener Reptilien oder fremdartige Vögel. Abermals krähte der Hahn in der Ferne, und als der Ton verklang, ließ er einen vielstimmigen Nachhall zurück; doch die ansteigenden und fallenden Noten hatten nichts mit dem Hahnenschrei zu tun. Was sie hörten, war das Plätschern und Murmeln einer Quelle, die irgendwo zwischen unsichtbaren Felsen entsprang und den kleinen See mit Wasser versorgte.
»Mr. Hetherton, meinen Sie …«
Er faßte sie am Arm, und sie verstummte. Am ihnen zugewandten Ufer, ein Dutzend Schritte voraus, war etwas, das aussah wie zwei Bäume: ein Weißdorn, krumm und knorrig wie ein geschundener Heiliger in einem barocken Martyrium, und etwas, das wie ein Stumpf auf zwei breiten Wurzeln wirkte. Aber jetzt sah Sheila, was Hetherton sah: die Wurzeln waren Beine, der Stamm der Torso eines Mannes, der dort stand und mit geneigtem Haupt hinunter in die Tiefen des Sees starrte.
Ein Zweig knackte unter Sheilas Fuß; mit einer Bewegung, die verwirrt und furchtsam wirkte, fuhr der Mann herum. »Wer ist da?« Eine gebildete
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