Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
doch nicht … vollg e macht?« Sie bringt das Wort kaum über die Lippen.
»Nein, nein!«, beeilen Felicity und ich uns zu s a gen.
»Es ist beschämend, nicht wahr? Mein Leiden.«
Felicity flicht Gänseblümchen zu einem Kranz. »Nicht beschämender, als eine Mutter zu haben, die sich von e i nem Mann aushalten lässt.«
»Es tut mir leid, Felicity. Ich hätte das nicht sagen so l len. Verzeihst du mir?«
»Da gibt es nichts zu verzeihen. Es ist die Wah r heit.«
»Die Wahrheit«, höhnt Pippa. »Mutter sagt, ni e mand darf je etwas von meinen Anfällen erfahren. Sie sagt, wenn ich merke, dass einer kommt, soll ich sagen, ich habe Kopfschmerzen, und mich entschu l digen.« Ihr Lachen ist bitter. »Sie meint, ich sollte imstande sein, es zu kontrolli e ren.«
Ihre Worte treffen mitten in meine eigene Wunde. Ich möchte ihr verzweifelt gern sagen, dass ich sie verstehe. Ihr mein Geheimnis verraten. Ich räuspere mich. Der Wind dreht sich. Er bläst die Blütenblätter zurück. Ich spüre, wie m ir der Moment entgleitet. Er versinkt mit den Blüten u n ter der Oberfläche.
Pippa wechselt das Thema. »Mutter teilt mir auf einer Genesungskarte mit, sie und Vater hätten eine wundervolle Überraschung für mich. Ich hoffe, es ist ein neues Korsett. Die Fischbeinstäbe in dem hier bohren sich mir praktisch bei jedem Atemzug in die Rippen. Heilige Götter!«
»Vielleicht solltest du nicht so viele Sahnebonbons e s sen«, sagt Felicity.
Pippa ist zu müde, um sich ernstlich aufzuregen. Sie tut nur empört. »Ich bin nicht dick! Meine Taille misst trau m hafte fünfzigeinhalb Zentimeter.«
Pippa hat eine Wespentaille, wie Männer sie angeblich bevorzugen. Unsere Korsetts schnüren und biegen uns nach diesem modischen Geschmack, o b wohl es uns kurzatmig macht und uns manchmal übel wird von dem Druck. Ich habe keine Ahnung, wie umfangreich oder schmal meine Taille ist. Ich bin alles andere als zierlich und meine Schu l tern sind wie die eines Jungen. Die ganze Unterhaltung ödet mich an.
»Kommt deine Mutter dieses Jahr, Fee?«, fragt Pippa.
»Sie ist zu Besuch bei Freunden. In Italien«, sagt Felic i ty, während sie ihren Kranz vollendet. Wir se t zen ihn auf ihren Kopf wie auf das Haupt einer Feenkönigin.
»Und dein Vater?«
»Ich weiß es nicht. Hoffentlich. Ich möchte schrecklich gern, dass ihr drei ihn kennenlernt, und er soll sehen, dass ich wirkliche Freundinnen aus Fleisch und Blut habe.« Ein trau r iges Lächeln huscht über Felicitys Gesicht. »Ich gla u be, er fürchtete, ich würde eine von diesen Trantüten we r den, die nie zu irgendwas eingeladen werden. Ich war schon ein bisschen so, nachdem Mutter …«
Nachdem sie uns verlassen hat.
Das sind die Worte, die unausgesprochen in der Luft hängen. Sie gesellen sich zu der Scham, den Geheimnissen, der Angst, den Visionen und der Epilepsie. So viele ung e sagte Dinge stehen zwischen uns. Je mehr wir uns bem ü hen, den Graben zu übe r brücken, desto weiter entfernen wir uns voneinander.
»Wie lange ist es her, dass du ihn gesehen hast?«, frage ich.
»Drei Jahre.«
»Ich bin sicher, diesmal wird er kommen, Fee«, sagt Pippa. »Und er wird sehr stolz sein, wenn er sieht, was für eine Schönheit aus dir geworden ist.«
Felicity lächelt und es ist, als hätte sie die Sonne ang e knipst, um uns beide zu bescheinen. »Oh. Ja, findet ihr? Ja, ich denke, er wird sich freuen. Wenn er kommt.«
»Ich würde dir meine neuen Glacehandschuhe leihen, aber meine Mutter erwartet, sie an meinen Fingern zu s e hen, um zu zeigen, wer wir sind«, seufzt Pippa.
»Was ist mit deiner Familie?« Felicity richtet ihre scha r fen Augen auf mich. »Werden sie kommen? Die gehei m nisvollen Doyles?«
Mein Vater hat seit zwei Wochen nicht geschri e ben. Ich denke an den letzten Brief von meiner Großmutter.
Liebste Gemma, i ch hoffe, dieser Brief trifft Dich bei guter Gesundheit an. Ich habe eine leichte Nerve n entzündung, aber mach Dir deshalb keine Sorgen, der Doktor sagt, es kommt nur von der anstrenge n den Pflege deines Vaters und wird abklingen, wenn Du wieder nach Hause kommst und mir hilfst, die Last zu tragen, wie es sich für eine gute Tochter gehört. Dein Vater scheint Trost im Garten zu fi n den. Er verbringt die meiste Zeit auf der alten Bank dort. Er hat es sich zur Gewohnheit gemacht, vor sich hin zu starren und einzunicken, aber sonst ist er frie d lich.
Gräme Dich nicht zu sehr um uns. Ich bin sicher, meine Kurzatmigkeit hat gar nichts
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