Der Geheimnistraeger
diesem Fall ein kurzer Name. Höchstens zwei oder drei Buchstaben.«
Vincent Paulsen kannte keinen Juwelier, aber er erinnerte sich an einen älteren Mann, dessen Laden in einer Seitenstraße bei der Vor Frue Kirke vor einigen Jahren überfallen worden war. Man hatte ihn brutal niedergeschlagen. Von einem Insiderjob hatte nicht die Rede sein können. Vincent hatte versucht, den Fall zu lösen, jedoch ohne Erfolg. Er erinnerte sich, dass ihm die Art, wie der Juwelier mit diesem Vorfall umgegangen war, imponiert hatte. Er hatte ihn als kleineres Missgeschick betrachtet, und ließ sich dadurch nicht weiter aus der Ruhe bringen. Nicht einmal die Tatsache, dass der Täter davongekommen war, hatte ihm weiter zu schaffen gemacht. Stattdessen hatte er sich bei der Polizei überschwänglich für ihre Bemühungen bedankt. Später hatte Vincent erfahren, dass der Mann Birkenau überlebt hatte. Allem Bösen dieser Welt war der alte Mann bereits ausgesetzt worden, und nichts hatte ihm noch etwas anhaben können.
Vincent schaute im Branchenverzeichnis nach. Das Geschäft gab es noch. Der Inhaber hieß Simon Herschfeld. Paulsen wählte die Nummer. Herschfeld war sofort am Apparat. Er sei jederzeit willkommen.
Es war kein Laden, in den sich die Kunden zufällig verirrten. Das Schaufenster war winzig, und die Tür war verschlossen. Vincent klopfte an das Glasfenster in der Tür und hörte nach ein paar Sekunden ein leises Knacken im Schloss. Er trat ein und fand den alten Juwelier mit einer Lupe vor dem einen Auge über einen Tisch gebeugt. In der einen Hand hielt er einen Ohrring, in der anderen eine winzige Zange. Eine Lampe beleuchtete seinen Arbeitsplatz.
»Einen Augenblick«, sagte der Juwelier hochkonzentriert. Vincent Paulsen betrachtete seinen Charakterkopf von der Seite. Sicherlich war er über achtzig.
»Sehr schön«, sagte der Juwelier und legte den Ohrring beiseite.
»Willkommen, mein lieber Paulsen. Was kann ich für Sie tun?«
Vincent Paulsen schaute zur Tür. »Ist das zur Sicherheit?«
»Ja«, erwiderte der Mann. »Meine Kopfverletzung ist verheilt, und die Versicherung sorgte dafür, dass der materielle Verlust nicht allzu groß war, aber es wäre dumm gewesen, das Schicksal wieder herauszufordern. In Zukunft will ich wissen, wen ich hereinlasse.«
»Sie arbeiten noch immer?«
»Ach ja. Meine geliebte Ruth ist vor fünfzehn Jahren gestorben, gerade als wir uns auf ein einfaches, heiteres Rentnerdasein freuten. Der Laden war mir eine Zuflucht in der Einsamkeit. Ich verkaufe nicht mehr sonderlich viel, aber ich kann mich hier mit schönen Gegenständen umgeben, und dann komme ich mir auch nicht so unnütz vor. Es kommen zwar kaum neue Kunden dazu, aber meine alten sind mir treu. Und es wäre nicht richtig, sie im Stich zu lassen, nicht wahr?«
Er wartete die Antwort nicht ab, sondern schaute zur Decke und sagte: »Ich habe eine kleine Wohnung über dem Laden und kann kommen und gehen, wann es mir gefällt. In letzter Zeit öffne ich nur noch nachmittags zwischen zwei und sechs. Aber Sie sind nicht hier, um über mich zu sprechen. Womit kann ich Ihnen dienen?«
»Es geht um einen Ring«, sagte Vincent. »Ich habe leider nur Fotos. Was können Sie mir über diesen Ring und über die Gravuren sagen?« Er reichte dem Juwelier einen Stoß Aufnahmen.
Der Juwelier betrachtete die Fotos eingehend, eines nach dem anderen. »Leider kein Stempel. Aber es handelt sich doch wohl um Silber?«
»Ja«, antwortete Paulsen.
»Ein einfacher Ring, auf der Außenseite recht schlicht. Obwohl er alt ist, kann er nicht sonderlich teuer gewesen sein.«
Herschfeld verfiel wieder in Schweigen und betrachtete abwechselnd einige der Detailaufnahmen. »Die Gravur scheint zwei Pfeiler darzustellen, man hätte über diese Gravur vielleicht mehr erfahren können, aber leider sind die Details mit den Jahren durch Abnutzung verloren gegangen.«
Er griff zum nächsten Foto, den Gravuren auf der Innenseite des Rings. »Bei den ersten Namen handelt es sich um italienische Namen, aber das ist Ihnen sicher auch schon aufgefallen.«
»Handelt es sich nicht bei allen um italienische Namen?«
»Sophia ist ursprünglich ein griechischer Name und Frances ist französisch«, sagte Simon Herschfeld. »Aber vermutlich gibt es diese Namen mittlerweile überall im Westen.«
Er sah sich die Namen näher an. »Sie sind bei vier verschiedenen Gelegenheiten eingraviert worden, das lässt sich an der Tiefe und am Stil der Gravuren erkennen. Jeder
Weitere Kostenlose Bücher