Der Geheimnistraeger
Graveur hat seinen eigenen Stil.«
»Wie können Sie die Tiefe auf der Fotografie erkennen?«
»Das ist nicht schwer, mein lieber Paulsen. Das sieht man an den Schatten. Und der Stil. Vittoria ist in einem Stil graviert, der Ende des 19. Jahrhunderts beliebt war. Der Name Donata ist neuer, er wurde von einer anderen Hand eingraviert, die mit dem Stichel tiefer arbeitete. Und Sophia, das geht aus dem Namen hervor, ist nach dem Zweiten Weltkrieg eingraviert worden.«
Er hob den Kopf und lächelte unergründlich. In diesem Lächeln lagen Erfahrungen, die Vincent nicht einmal annäherungsweise erahnen konnte. »Und bei Frances«, meinte der Mann. »Da ist die Schrift modern. Das sieht sicher auch ein ungeübtes Auge.«
»Also, was glauben Sie?«
»Ein Ring, der von einer Generation zur nächsten weitervererbt wurde. Von den Müttern. Ein schöner Gedanke.«
»Aber so ein schlichter Ring«, wandte Vincent ein.
»In der Absicht liegt die Schönheit, und ihr Wert lässt sich nicht ermessen. Vielleicht war die erste Geberin arm.« Der Juwelier betrachtete die Fotos erneut. »Vittorias Eltern waren sicher nicht reich, aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass sie ein Wunschkind war.«
Vincent Paulsen hatte keine weiteren Fragen mehr. Er bedankte sich, und der alte Mann begleitete ihn zur Tür.
»Kann ich die Fotos behalten?«, fragte der Juwelier. »Wissen Sie, dieses Geheimnis betrachte ich als Herausforderung.«
»Ich habe Ihnen doch noch nicht einmal verraten, worum es geht«, meinte Vincent.
»Das macht es noch interessanter.«
»Es handelt sich um Material von einer laufenden Ermittlung. Wir haben natürlich noch weitere Abzüge, aber die Namen … ihre mögliche Bedeutung … das unterliegt natürlich der Geheimhaltung. Wir wollen nicht, dass der Täter erfährt, was wir wissen. Das verstehen Sie doch?«
»Das Muster, die Gravur«, meinte der Juwelier. »Vielleicht kann ich das Rätsel ja für Sie lösen.«
Vincent Paulsen lächelte. Nach kurzem Zögern gab er dem Juwelier die Fotos und machte sich nicht einmal die Mühe, ihn zu ermahnen, sie niemand anderem zu zeigen.
Am Tag darauf fanden die Kriminaltechniker heraus, dass der Ring mit Sprengstoff in Berührung gekommen war. Mr. Key hatte ihn ohne jeden Zweifel an einem seiner Finger getragen. Skov und Paulsen diskutierten die Schlussfolgerungen des alten Juweliers.
»Das ergibt keinen Sinn«, meinte Skov. »Ein Familienring, der von der Mutter auf die Tochter vererbt wird. Wieso trug er ihn?«
»Vielleicht hatte er ihn von seiner Mutter bekommen«, meinte Paulsen.
»Trotzdem ergibt es keinen Sinn. Unser Mann kam vermutlich in den Siebzigern zur Welt. Wenn dein Juwelier recht hat, dann müsste Sophia seine Mutter sein. Aber wer ist dann Frances? «
»Möglicherweise seine Schwester?«, meinte Vincent. »Sie starb vielleicht, und er war der Jüngste? Er ist der Einzige, der ihn an die nächste Generation, an eine Tochter, weitergeben kann.«
»Vielleicht hat er ihn einfach auf einem Flohmarkt gekauft«, meinte Skov skeptisch.
»Und was machen wir jetzt?«
Skov zuckte mit den Achseln. »Abwarten«, sagte er. »Vier Namen. Wie zum Teufel sollen wir diese Familie in Italien ausfindig machen? Falls er nun wirklich von dort kam. Wie viele italienische Familien leben in den USA? Oder in Schweden. Wir benötigen weitere Anhaltspunkte. Wir müssen uns ihm nähern.«
24. Kapitel
Die Frau an der Rezeption schaute auf und lächelte. »Willkommen in unserem Tagungshotel«, sagte sie auf Englisch. Sie strahlte Energie und Optimismus aus, sehr passend für ihren Beruf. Am Revers ihres schlichten Kostüms steckte ein Namensschild: Doris Lund.
»Ich bin überzeugt davon, dass es Ihnen bei uns gefallen wird«, sagte Doris Lund und lächelte erneut. Nicht einschmeichelnd, sondern herzlich. Sie wusste genau, welche Mimik angemessen war.
»Da bin ich mir sicher«, antwortete der Mann, der ihr gegenüber auf der anderen Seite des Tresens stand. Er war nicht unfreundlich, aber er machte so wenige Worte wie möglich, was nicht gerade dazu einlud, das Gespräch fortzusetzen.
Offenbar war er der Leiter. Hinter ihm standen mindestens zwei Dutzend weitere Männer, schweigend. Doris lächelte auch den übrigen Anwesenden in der Lobby zu. Dieses Lächeln war zwar einstudiert, aber auch etwas erstaunt. Sie hatte die Buchung gesehen: Institute for Social Studies , und keine so homogene Gruppe erwartet. Alle Teilnehmer waren Männer zwischen fünfundzwanzig und
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