Der Geheimnistraeger
»Lydia Tamaradze«, antwortete sie. »Ich bin aus Georgien und habe in Dänemark Asyl beantragt.« Anschließend wurde sie in einem Gefangenentransporter direkt in eine Sicherheitszelle nach Kopenhagen gebracht.
Am Nachmittag durfte Doris Lund das Krankenhaus in Slagelse nach einer ersten polizeilichen Vernehmung verlassen. Die einzigen körperlichen Verletzungen, die sie davongetragen hatte, waren ein paar von dem Klebeband hervorgerufene Schürfwunden an den Handgelenken. Sie hatte nach den drei Tagen in Gefangenschaft auch stark abgenommen. In einem Blitzlichtgewitter wurde sie zu einem Polizeiauto geführt, und der Wagen fuhr mit hoher Geschwindigkeit mit ihr weg.
Vor ihrem Reihenhaus standen so viele Fotografen und Journalisten, dass sich die Polizei gezwungen sah, eine Mauer um sie herum zu bilden, damit sie überhaupt zur Haustür vordringen konnte. Die Journalisten versuchten einander mit Fragen darüber, wie die Terroristen sie behandelt hätten und was für ein Gefühl es sei, als fast Einzige überlebt zu haben, zu übertönen. Doris zog einfach nur den Kopf ein.
In der Diele ließ sie sich auf die Knie fallen und schloss ihren Sohn in die Arme. Sie hatte ihm versprochen, dass nie etwas Schlimmes passieren würde. Jetzt wusste sie, dass das eine Lüge gewesen war.
57. Kapitel
Espen hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Durchs Fenster sah es aus wie ein Luftwaffenstützpunkt. Die Landschaft war platt und eintönig. Er erkannte nichts wieder.
Er saß eingeschlossen in einem Zimmer. Ein Arzt hatte ihn untersucht und festgestellt, dass er fast unverletzt geblieben war. Anschließend hatte der Arzt das Zimmer verlassen.
Nach einigen Stunden wurde der Schlüssel erneut im Schloss umgedreht und die Tür geöffnet. Ein Mann in einem tadellosen Anzug betrat das Zimmer.
»Wir möchten Ihnen danken, Mr. Krogh«, sagte er auf Englisch mit einem unverkennbaren amerikanischen Akzent. Er nahm auf einem Stuhl gegenüber von Espen Platz. »Ihr Einsatz war erstklassig«, fuhr er fort.
»Auch ich habe zu danken«, erwiderte Espen. »Ich bin hier nun schon ziemlich lange eingesperrt, aber so allmählich gewöhne ich mich daran. Außerdem blieb mir hier das Klebeband um die Handgelenke erspart.«
»Entschuldigen Sie. Security . Aber bald dürfen Sie nach Hause fahren.«
Die Tür stand offen, der Mann hatte sie nicht zugemacht, und sie hatte sich hinter ihm wieder geöffnet. Vom Korridor her hörte Espen ein schwaches Geräusch, das wie ein erstickter
Schrei klang. Er sah den Mann an, der sich erhob und die Tür wieder schloss.
»Sie haben auch zwei Besetzer mitgenommen, wie mir auffiel«, sagte Espen. »Als Andenken?«
Der Mann lächelte, ohne dass das Lächeln bis zu seinen Augen vorgedrungen wäre. »Es ist uns wichtig, möglichst rasch alles über diesen entsetzlichen Terrorakt zu erfahren. Das verstehen Sie sicher.«
»Und wie geht es Mr. Woods?«, fragte Espen.
»Den Umständen entsprechend gut. Er ist natürlich ziemlich mitgenommen, aber er wird hier erstklassig ärztlich betreut.«
Espen beugte sich vor. »Vertrauen Sie mir ein Geschäftsgeheimnis an«, sagte er. »Ich finde, ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren. Warum haben Sie mich dorthin geschickt?«
»Um über die Freilassung von Mr. Woods zu verhandeln natürlich. Aber als uns klar wurde, dass er nicht freigelassen werden würde, haben wir stattdessen angegriffen.«
Espen deutete auf seine Schläfe. »Ich glaube«, sagte er dann, »dass der Grund ein ganz anderer war.«
»Und welcher Grund sollte das gewesen sein?«
»Das Mikro. Sie haben mich als lebendes Mikrofon dorthin geschickt. Sie brauchten jemanden im Hotel, der Ihnen die notwendigen Informationen darüber lieferte, wo genau sich Mr. Woods aufhielt.«
Der Mann lächelte erneut. »Wir sahen uns gezwungen, uns gegen alle Eventualitäten abzusichern.«
»Woods sollte gerettet werden, aber alle anderen konnten geopfert werden, um zu ihm vorzudringen. Ich habe keine Augenbinde getragen und bin auch nicht blind. Auf dem Weg nach unten sah es aus wie im Schlachthaus!«
»Mr. Krogh, auch Sie sind noch am Leben. Vergessen Sie nicht, dass die Terroristen Sie alle getötet hätten, wenn wir
nicht eingegriffen hätten. Unschuldige sind zu Tode gekommen und zwar mehr, als wir gewünscht hätten, aber wir hatten keine Wahl.«
»Mehr, als Sie gewünscht hätten?«
»Sie verstehen, was ich meine. Aber ich bin nicht hier, um mich mit Ihnen zu streiten. Sie sind uns und Mr. Woods eine
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