Der Geheimnisvolle Eremit
unschuldig unter den Frauen des Haushaltes zu verbringen und sich ständig blicken zu lassen. Sie beschäftigte sich mit den Dingen, die der Dame des Hauses zustanden. Sie hatte Richards Tür wieder verriegelt, denn selbst ein zehnjähriger Junge hatte genug Verstand, den Riegel wieder vorzulegen, um den Schein zu wahren. Wenn die Flucht entdeckt wurde, konnte sie ohne weiteres zunächst vorbringen, daß sie sich nicht erinnerte, die Tür unverriegelt gelassen zu haben, um es schließlich doch zuzugeben. Doch bis dahin war Richard, wenn alles gut ging, schon wieder in der Enklave der Abtei und konnte mit einiger Verspätung darüber nachdenken, wie er sich am besten als unschuldiges Opfer darstellte und wie er jede Erinnerung an den Abtrünnigen tilgte, der ohne Erlaubnis davongelaufen war und dieses ganze Durcheinander und die Aufregung angestiftet hatte. Nun, das war Richards Sache. Sie hatte ihren Teil erledigt.
Es war ein unglücklicher Zufall, daß der Knecht, der Richards Pony auf die Koppel gebracht hatte, am frühen Nachmittag ein zweites Tier, das etwas lahmte, zum Weiden hinausbringen wollte. Natürlich fiel ihm sofort auf, daß Richards Pony verschwunden war. Er hielt sich an die erste, offensichtliche, wenn auch unwahrscheinliche Möglichkeit und war schon halb über den Hof gerannt, um zu rufen, daß das Pferd gestohlen worden sei, bevor ihm einfiel, im Stall nach Sattel und Zaumzeug zu sehen. Nun erschien der Verlust in einem anderen Licht, und außerdem erhob sich die Frage, warum ein Dieb ausgerechnet das am wenigsten wertvolle Tier nehmen sollte. Und warum den Diebstahl bei Tageslicht riskieren?
Dunkle Nächte waren am besten geeignet.
So stürmte er in die Halle und rief laut und atemlos, daß das Pony des jungen Bräutigams verschwunden sei, zusammen mit dem Sattel und allem anderen, und der Herr solle sich besser vergewissern, ob der Junge noch hinter Schloß und Riegel sitze. Fulke, der die Nachricht kaum glauben konnte, machte sich selbst auf den Weg und fand die Tür sicher verschlossen wie eh und je, und doch war der Raum leer. Er stieß einen lauten Wutschrei aus, der Hiltrude über ihrer Stickerei zusammenzucken ließ, doch die hielt die Augen auf ihre Arbeit gerichtet und stickte artig weiter, bis der Sturm zum Ausbruch kam und die ganze Halle erfaßte.
»Wer war es? Wer hat ihm zuletzt aufgewartet? Welcher Dummkopf unter euch, aber ihr seid ja alle Dummköpfe, hat die Tür unverriegelt gelassen? Oder hat ihn etwa einer von euch mir zum Trotz absichtlich freigelassen? Ich werde dem verräterischen Hund die Haut abziehen, wer immer es war.
Sprecht! Wer hat diesem Lausebengel das Mittagessen gebracht?«
Die Kammerdiener hielten sich außer Reichweite und beteuerten stammelnd ihre Unschuld. Die Mädchen rannten herum wie aufgescheuchte Hühner und warfen sich aus den Augenwinkeln Blicke zu, doch keine wagte es, ein Wort gegen ihre Herrin zu sagen. Hiltrude nahm ihren ganzen Mut zusammen und stellte sich der Bewährungsprobe. Sie legte ihre Stickerei beiseite und sagte kühn und nicht im mindesten trotzig: »Aber Vater, du weißt doch, daß ich es selbst war. Du hast doch gesehen, wie ich danach den Teller zurückbrachte.
Gewiß habe ich die Tür wieder verschlossen – ich bin ganz sicher. Und niemand hat ihn danach aufgesucht, es sei denn, du hast ihn selbst besucht, Vater. Wer sollte auch ohne Auftrag das Zimmer betreten? Und ich habe niemand einen Auftrag gegeben.«
»Bist du da wirklich so sicher, meine junge Dame?« brüllte Fulke. »Als nächstes wirst du mir wohl erzählen, daß der Bursche gar nicht verschwunden ist, sondern noch in dem Zimmer sitzt, wo er sein sollte. Wenn du als letzte in dem Zimmer warst, dann bist du auch dafür verantwortlich, daß er sich davonstehlen und fliehen konnte. Du mußt die Tür unverriegelt gelassen haben, denn wie sonst hätte er herauskommen sollen? Wie konntest du nur so dumm sein?«
»Ich habe sie nicht unverriegelt gelassen«, wiederholte sie, diesmal aber mit erheblich geringerer Selbstsicherheit. »Und selbst wenn ich es vergessen habe«, räumte sie schuldbewußt ein, »aber ich kann es nicht glauben – aber selbst wenn, spielt es denn eine Rolle? Er kann nicht ändern, was geschehen ist; das kann niemand mehr. Ich verstehe die Aufregung nicht.«
»Du verstehst es nicht, du verstehst es nicht – du siehst nicht weiter als bis zu deiner Nasenspitze, junge Dame! Er wird zu seinem Abt zurückrennen, und was wird er dem wohl
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