Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
sie hoch und riss die Tür auf. Es machte ihr nichts aus, dass ihr sofort der Rauch in die Augen stieg und ihr vor lauter Tränen die Sicht verschwamm. Das Entscheidende konnte sie sehen: Die Gemeindeküche brannte nicht, das Feuer war weitergezogen!
Helene stieß einen Freudenschrei aus, der die Frauen veranlasste, sich aus ihren Decken zu schälen. Die meisten waren noch ganz benommen, als sie langsam aufstanden.
»Es ist vorbei!«, rief sie jetzt triumphierend, »es ist vorbei.« Luise war als Erste an ihrer Seite, um sich selbst davon zu überzeugen. Halb weinend, halb lachend umarmten sie einander, während sich die anderen, noch immer wie betäubt, langsam zu ihnen gesellten. Das Feuer war nicht nur die Straße hinuntergezogen, es hatte Neu Klemzig verlassen. Und schon auf den ersten Blick war klar, dass die allermeisten Häuser verschont geblieben waren.
Warum das Feuer so verhalten zugeschlagen hatte, wusste niemand, doch eine Welle der Erleichterung machte sich unter den Frauen breit. Luise inspizierte oberflächlich die Häuser rechts und links auf Schwelbrände, die noch nach Stunden zu einem erneuten Brand auflodern konnten. Genaueres konnte sie nicht sagen, weil sie nicht ohne den Rat erfahrener Männer die einsturzgefährdeten Gebäude betreten wollte, doch von außen sah es so aus, als drohe keine unmittelbare Gefahr.
Als sich die erste Freude über das eigene Überleben etwas gelegt hatte, liefen Helene und Luise die Hauptstraße ab, um zu sehen, wessen Haus es getroffen hatte und wer von den Flammen verschont geblieben war. Die anderen Frauen versuchten, die Freundinnen zurückzuhalten, doch die beiden fühlten sich sicher und schlugen die Ermahnungen in den Wind. Ganz bestimmt würden sie nichts Unvernünftiges unternehmen, wie etwa in Häuser hineinzugehen oder Dinge hochzuheben, die noch glutheiß sein konnten. Sie wollten sich nur einen Eindruck vom Ausmaß der Katastrophe verschaffen, um gleich, wenn sie hoffentlich die Männer sehen würden, einen hilfreichen ersten Bericht liefern zu können. Vielleicht war auch jemand verletzt und konnte nicht vom Fleck, weil ein herabgestürzter Balken ihn oder sie festhielt.
Doch als sie am Ende der Hauptstraße angekommen waren, fanden sie nichts dergleichen. Drei Häuser waren niedergebrannt, und es war natürlich nicht auszuschließen, dass es in den Trümmern verbrannte Körper gab. Sie hatten Anna versprochen, gleich anschließend nach den Kindern im Schlafhaus zu sehen, das am oberen Ende der Straße unweit der Kirche lag. Helene wohnte dort noch immer in ihrem kleinen Zimmer im Obergeschoss neben Gottfried, wenn der nicht gerade auf Zionshill weilte. Die vordringliche Frage war jetzt, ob das Haus noch stand. Helenes und Luises Schritte beschleunigten sich, als sie von weitem sehen konnten, dass am oberen Ende der Hauptstraße viel mehr Häuser gebrannt haben mussten. Der wieder dichter werdende Rauch machte Helene Angst. Die Kinder! Sie musste nur Luise ansehen, um zu erkennen, dass die Freundin das Gleiche dachte.
Sie nahmen einander bei der Hand, dann hielten sie sich die Schürzen vor den Mund, um sich vor dem Rauch zu schützen, und begannen, so schnell zu laufen, wie es unter den Umständen nur irgend ging.
»Halt, wartet doch!«, rief es unerwartet hinter ihnen. Anna war ihnen nachgelaufen, stolpernd und hustend holte sie zu ihnen auf. Sie nahmen sie in ihre Mitte.
»Entschuldige«, sagte Helene und meinte es ernst. Sie hätten Anna gleich mitnehmen sollen.
Das Schlafhaus lag hinter der kleinen Anhöhe. Es war nicht weit, keine fünfzig Meter mehr, doch bevor sie nicht auf dem höchsten Punkt der Hauptstraße angekommen waren, konnten sie es nicht sehen. Anna hatte sich von den Freundinnen gelöst, war als Erste oben und stand dann wie starr. Sekunden später waren Luise und Helene bei ihr.
Der Anblick, der sich ihnen bot, war ein Schock. Die drei Frauen standen still, zu erschüttert, um einen Schreckenslaut von sich geben zu können. Der Wind hatte sich gelegt. Rauch stieg in Säulen zum Himmel auf und gab die Sicht frei auf das, wovon sich das Feuer genährt hatte: Von der Bäckerei am unteren Ende der Anhöhe standen nur noch der steinerne Ofen und der Kamin. Die Kirche hingegen, drei Häuser neben der Bäckerei gelegen, hatte das Feuer wie durch ein Wunder verschont. Nur zwei Straßenecken weiter lag das Schlafhaus. Von ihrem Aussichtsposten sahen sie das wenige, das von ihm geblieben war. Der Dachstuhl war abgebrannt, und alles
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