Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
Aborigine mit ihrer Tochter unvermittelt aufgebrochen. Keiner im Dorf oder in der Schule konnte Helene bislang sagen, wann und ob sie überhaupt zurückkehren würden.
Luise schlug ein kariertes Tuch auf.
»Magst du?« Sie hielt ihr Apfelkuchen hin. Helene lächelte und griff zu. Keine konnte so gut backen wie Luise.
»Wenn es dir keine Ruhe lässt, kannst du Warrun fragen. Als Stammesführer wird er wissen, wo die beiden sind. Ich vermute, Amarina hat einen Mann in einer anderen Gruppe ihres Stammes gefunden. Du hast sicherlich gehört, dass der Vater von Cardinia von irischen Siedlern im Valley bei Langmeil erschossen worden ist, oder?«
Ja, davon hatte Helene gehört, und sie wusste nicht recht, wem sie Glauben schenken sollte. Die Missionare bestanden auf ihrer Version der Geschichte: Mandu, Cardinias Vater, hätte mit ein paar anderen Kriegern seines Stammes die einsame Farm hinterhältig überfallen, um Mehl und Zucker zu stehlen. Der Farmer selbst war mit seinen Treibern zu entlegenen Weidegründen unterwegs gewesen, und so hatte seine Frau ohne Zögern zum Gewehr gegriffen, als die Hütehunde mitten in der Nacht wie wild anschlugen. Offenbar war die Irin eine begnadete Schützin. Wie anders war es zu erklären, dass sie in der stockdunklen, wolkenverhangenen Nacht einen schwarzen Mann schon beim zweiten Schuss mitten ins Herz getroffen hatte?
Amarina hatte nur bitter aufgelacht, als Helene sie eines Tages nach der Schule vorsichtig auf den tragischen Unfall ihres Mannes angesprochen hatte. Cardinia schien sehr unter dem Tod des Vaters zu leiden, und Helene erhoffte sich, die Kleine besser trösten zu können, wenn sie mehr über den Vorfall wüsste.
»Du bist weiß, du glaubst weißem Mann«, sagte Amarina. Sie machte eine abfällige Handbewegung und wandte sich kopfschüttelnd zum Gehen. Doch Helene hielt sie am Arm fest.
»Ist das denn nicht die Wahrheit?« Sie sah ihr in die Augen. Das Weiße um Amarinas schwarze Pupillen schimmerte wie Perlmutt.
Amarina zuckte mit den Schultern, bevor sie sich aus Helenes Griff befreite.
»Geh nicht, Amarina! Ich will deine Geschichte hören, die schwarze Geschichte.« Helene kauerte sich entschlossen vor Amarina auf den roten Boden und bedeutete ihr mit der Hand, neben ihr Platz zu nehmen. Amarina runzelte die Stirn, schaute sich um, und erst als sie sicher war, dass sie allein waren, ließ sie sich neben Helene nieder. Helene hatte ihre Hände gefaltet und legte sie wie eine aufmerksame Schülerin in den Schoß.
»War kein Überfall. Mandu und die Männer gearbeitet, sehr schwer. Bäume gefällt, Füchse gejagt, Schneise gehauen. Der weiße Mann nichts gegeben.«
»Und da haben Mandu und die anderen sich ihren Lohn holen wollen. Ist das richtig?«
Amarina nickte gedankenversunken. »Mandu nicht sein Name.«
»Wieso nennst du ihn dann so?«
»Mandu heißt Sonne. Mandu meine Sonne.« Amarinas Lippen begannen zu zittern, doch sie fasste sich wieder. Ihre letzten Worte trafen Helene mitten ins Herz, und am liebsten hätte sie die trauernde Frau in den Arm genommen, doch sie spürte, dass Amarina das nicht gewollt hätte.
»Sonne, das ist ein wunderschöner Name. Wie hieß Mandu denn wirklich?«
Amarina blickte zu Boden. »Darf nicht sagen. Name von Toten ist tabu. Kann nie wieder sagen.« Jetzt rollten ihr die Tränen übers Gesicht und hinterließen glänzende Spuren. Amarina strich sich mit dem Handballen grob über die Wangen.
Wie gerne hätte Helene Amarina tröstend an sich gezogen, doch sie spürte, dass dies falsch und anbiedernd gewesen wäre. Bevor sie der jungen Frau ungefragt zu nahe kam, musste sie erst noch mehr über Amarina und ihren Stamm lernen. Doch jetzt wollte sie das Ende ihrer Geschichte hören.
»Mandu und seine Männer wollten sich also ihren Lohn abholen. Und dann? Was ist dann passiert?«
»Mandu wütend. Will sein Essen, Mann gibt nichts. Weißer will nichts für Arbeit geben, erschießt Mandu.«
Helene atmete tief aus und legte vorsichtig ihre Hand auf Amarinas Arm. Sie wusste nicht, wer recht hatte, aber sie fand Amarinas Bericht verstörend. Mandu lebte nicht mehr, und es hatte nie eine Verhandlung gegeben. Die Siedlerin, so hieß es, hätte aus Notwehr gehandelt, um sich und die Kinder vor den unberechenbaren Wilden zu schützen. Doch Helene hatte im Dorf hinter vorgehaltener Hand auch gehört, seine Familie hätte den Farmer bereits am Tag zuvor zurückerwartet. Könnte es sein, dass Amarina die Wahrheit sagte und der
Weitere Kostenlose Bücher