Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
angebracht waren. Hinter einem Silberrahmen sah sie dieselbe Frau, deren Bild sie eben im Kulturzentrum der Orta entdeckt hatte. Es war ein Hochzeitsfoto. Helen und John Tanner. Juni 1911. Die Frau im Hochzeitskleid saß mit geradem Rücken und ernstem Gesicht auf einem Stuhl, der große, blonde Mann daneben hatte den Arm um die Lehne gelegt und schaute ebenfalls mit unbewegter Miene in die Linse. Daneben hingen in ungeordneter Reihenfolge ein paar alte Zeitungsartikel, die im Wesentlichen vom Wachstum der Farm und vom Erfolg der Zuckerindustrie in Far North Queensland berichteten. Diese Artikel erstreckten sich über einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren, bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Helen und John Tanner hatten offensichtlich eine, oder besser gesagt zwei ziemlich erfolgreiche Zuckerrohrfarmen betrieben. Bevor die beiden nach der Hochzeit ihre Güter zusammengelegt hatten, bewirtschaftete Helen Tanner Rosehill eigenständig. Später dann wurde das Ehepaar außerdem zu Miteignern zweier Zuckermühlen, verkaufte seine Anteile aber zu Beginn der Rezession rechtzeitig und konzentrierte sich fortan auf den Anbau.
Natascha rieb sich die Augen. Sie war müde, und nichts von alldem gab ihr einen Hinweis darauf, weshalb diese Frau mit ihrer Großmutter in irgendeiner Verbindung gestanden haben könnte. Als sie zur nächsten Wand ging, die sich thematisch mit einem Schiffsunglück zu befassen schien, stutzte sie plötzlich, und ihr Blick blieb an einem Brief aus dem Jahre 1911 hängen. Natascha überflog die zwei Seiten nur, denn im Augenblick interessierte sie die Handschrift viel mehr als der Inhalt des Schreibens. Sie nahm den Rucksack von der Schulter und zog den dünnen Plastikschuber hervor, in dem sie ihre Funde aufbewahrte. Sie entfaltete den jüngsten der geheimnisvollen Briefe an ihre Großmutter, den aus dem Jahre 1958, und hielt ihn neben das Schreiben hinter Glas. Die Unterschriften ließen keinen Zweifel. Helen Tanner aus Meena Creek hatte auch den Brief geschrieben, den sie gerade in den Händen hielt.
Jetzt, da sie die Verfasserin zweifelsfrei identifiziert hatte, begann Natascha, sich für die kleine Ausstellung zu erwärmen. Vielleicht würde sie hier ja auch auf den entscheidenden Hinweis stoßen, wie die Briefe aus der Schublade ihrer Mutter mit dieser entlegenen Farm in Australien zusammenhingen.
Bei dem Unglück ging es um ein Schiff namens Yongala, das 1911 in einem Zyklon vor Townsville untergegangen war. Einhunderteinundzwanzig Tote. Natascha hatte sich gerade in einen Bericht des Brisbane Telegraph vertieft, als ihr jemand auf die Schulter tippte. Sie fuhr herum und blickte in Mitchs Gesicht. Erleichtert legte sie eine Hand aufs Herz und atmete aus.
»Sorry, wenn ich dich erschreckt habe. Ich wollte nur nach dir sehen.« Er zeigte mit dem Daumen vorsichtig in Richtung Rezeption und senkte die Stimme. »Die gute Ruby kaut Besuchern nämlich gerne mal das Ohr ab, wenn es ihr zu langweilig wird.« Natascha lächelte und berichtete, was sie herausgefunden hatte.
»Was hatte Helen Tanner denn mit dem Untergang dieses Schiffes zu tun?«, fragte sie.
Mitch kratzte sich am Hinterkopf und warf einen Blick auf die unübersichtliche Menge an Artikeln an der Wand vor ihnen. Anders als im Kulturzentrum war hier offensichtlich kein Ausstellungsprofi am Werk gewesen.
»Soweit ich weiß, hat Rosehill einer Familie gehört, die mit der Yongala untergegangen ist.«
»Eine ganze Familie?«
Mitch nickte, suchte gleichzeitig nach den entsprechenden Informationen an der Wand. Sein Finger tippte schließlich auf einen bräunlichen Ausriss des North Queensland Herald vom Herbst 1911.
»Da steht es. Ein Auszug aus den Passagierlisten: Matthias Jakobsen samt Frau Katharina und drei Kindern.«
»Matthias, Katharina. Das hört sich nach deutschen Namen an.«
»Würde mich nicht wundern. In diese Ecke Australiens hat es gegen Ende des 19. Jahrhunderts viele deutsche Einwanderer verschlagen – tut es übrigens immer noch.«
»Hm. Und was hatte nun Helen Tanner mit der Yongala zu tun, mal abgesehen davon, dass sie später offensichtlich im Haus dieser Familie lebte, die damals mit dem Schiff verunglückt ist?«
Mitch deutete auf den gerahmten Brief. Es war derselbe, der Natascha bei der Identifikation der Handschrift geholfen hatte.
»Helen Tanner hat sich seit dem Fund der Yongala dafür eingesetzt, dass die Fundstelle von den Behörden unter Schutz gestellt wird. 1961 hat es dann endlich
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