Der geheimnisvolle Gentleman
zurück sein.«
Olivia ließ sich in den Sessel vor dem Schreibtisch fallen. Ihre gute Laune war dahin. »Oh.«
Auch Lord Dryden setzte sich, und ein Grinsen stahl sich über sein Gesicht. »Ich nehme an, es gibt nichts, was ich an seiner Stelle für Euch tun könnte?«
Bei seinem neckenden Tonfall fuhr Olivia mit dem Kopf hoch. Ja, er hatte gemeint, was sie geglaubt hatte, das er meinte. Sie sollte jetzt empört sein. Sie sollte ihm eine Szene machen.
Sein Gesicht nahm einen schelmischen Ausdruck an, während seine Augen freundschaftlich und keineswegs lüstern blitzten.
Sie konnte nicht anders. Sie kicherte.
Sein Grinsen wurde breiter. »Ihr seid eine echte Überraschung, wenn Ihr mir die Bemerkung erlaubt.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und betrachtete sie. »Ich hatte erwartet, dass Ihr eher von der Sorte wie Miss Hackerman sein würdet.«
Olivia verdrehte die Augen. »Wie? Nur Schein und kein Sein? Bitte verschont mich mit den Misses Hackermans dieser Welt.«
Lord Dryden zog eine Schnute. »Ach, ich weiß nicht. Irgendwie mag ich sie …«
»In absentia«, sagten sie gleichzeitig und lachten.
Olivia betrachtete ihn lächelnd. »Ich denke, Ihr solltet mich beim Vornamen nennen, so oft wie Ihr Euch anscheinend hier aufhaltet.«
Er verneigte sich. »Es ist mir eine Ehre, Olivia. Dann müsst Ihr mich Marcus nennen.« Er lächelte schief. »Ich habe ein eigenes Zuhause.« Er zuckte die Achseln. »Danes Koch ist besser.«
Wieder lachte sie und schüttelte den Kopf. »Männer! Mein Bruder war genauso.« Sie lächelte Marcus liebevoll an. »Ihr seid ihm sehr ähnlich.«
Da sie ihm damit ein Kompliment hatte machen wollen, war sie sehr überrascht, dass ein Anflug von Widerwillen über sein Gesicht huschte. Sie erinnerte sich an den gestrigen Abend, als Lord Reardon auf dieselbe Weise auf den jungen Lord Wallingford reagiert hatte, der wahrscheinlich Walters engster Freund in London gewesen war. Sie schaute Marcus irritiert an.
»Kanntet Ihr meinen Bruder?«
Er schaute auf seine Hände. »Nein, das kann ich nicht sagen. Wir, ähm, wir bewegten uns in unterschiedlichen Kreisen, so könnte man es wohl ausdrücken.« Seiner Stimme war deutlich anzumerken, dass er Walters Freundeskreis nicht guthieß.
»Was wollt Ihr damit sagen?«
Marcus wich ihrem Blick aus. »Entschuldigt. Aber man sollte nicht schlecht von den Toten sprechen.«
Sie starrte ihn irritiert an. »Das sagt man nur, wenn man in Wahrheit schlecht von den Toten reden will.«
Er schaute sie an. »Ja, nun …«
Sie stieß seufzend den Atem aus. »Marcus, ich möchte nur wissen, was mit meinem Bruder passiert ist. Ich habe ihn geliebt, aber mir ist auch klar, dass niemand vollkommen ist.«
Marcus’ Blick wurde sanfter. »Ich habe niemals Schlechtes über Euren Bruder persönlich gehört, nur über die Leute, mit denen er Umgang pflegte.«
Olivia beugte sich vor. »Was für Leute waren das?«
Marcus runzelte die Stirn. »Ein nichtsnutziger Haufen, allesamt. Ein paar gut gekleidete Rüpel, die von ihrem zu erwartenden Erbe leben. Die meisten davon eher dumm als gefährlich, aber sie sind bekannt dafür, dass sie …« Er zögerte.
»Dass sie was?« Walt würde niemandem Schaden zufügen – nein, das stimmte nicht ganz. Er hatte einmal den
Sohn des Schmieds erwischt, wie dieser einen streunenden Hund mit einem heißen Brandeisen gequält hatte. Eine zerschmetterte Nase und ein paar gebrochene Rippen waren die Folge.
»Dass sie was?«
»Der Anführer, der junge Lord Wallingford, also, vielleicht sollte ich nur sagen, dass seine Familie einen ziemlichen Verschleiß an Hausmädchen hat. Und sein bester Freund, Lord Ashby, soll die Erzieherin seiner jüngeren Schwester vergewaltigt haben, obwohl die Frau verschwunden ist, bevor Anklage gegen ihn erhoben werden konnte. Lord Connor ist nicht ganz so schlimm, er rührt indes keinen Finger, um die anderen von ihrem verwerflichen Treiben abzuhalten. Wahrscheinlich ist er die meiste Zeit zu betrunken dafür.«
Olivia hörte mit wachsender Beunruhigung zu. »Nein! So war Walt ganz und gar nicht! Er würde sich niemals mit solchen Leuten abgeben! Er war ehrbar und ein feiner Kerl und …«
Marcus sah sie nur traurig an. »Und ertrank, als er betrunken von einem Boot stürzte, das bis an den Rand voller Prostituierter und Opium war.«
Olivia lehnte sich zurück und presste die Kiefer aufeinander. »Das glaube ich nicht.«
Marcus hob eine Augenbraue. »Ihr habt gefragt, was ich gehört
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