Der Geist des Nasredin Effendi
unbeschreiblichen Gesichtsausdruck: »Wenn es geht – zu ihm.«
Anora lächelte ganz schwach und verstehend. »Es wird gehen«, antwortete sie.
Im Trubel der Stadt, in dem das Auto nur langsam vorankam angesichts des Menschengewühls, der rasenden Straßenbahn verblaßte Nasreddins Wunsch, sofort zu Timurlenks Grab zu gehen, wurde von Furcht, wiederum nicht zu bestehen, überschattet, von der Neugier, die ihn stachelte, sofort, daß ihm auch ja nichts entginge, alles Neue in sich aufzusaugen.
Als der Wagen am himmelwärts strebenden Hotel »Samarkand« hielt, Nasreddin überwältigt die gläserne Fassade emporstarrte, hatte er Timur fast vergessen. Er stand und nahm auf, schrak förmlich zusammen, als Anora ihn am Ärmel zupfte, mit weitausgestrecktem Arm durch Bäume und Büsche wies und fragte: »Siehst du dort das Haus, neben dem Autobus?« Und als er, ein wenig zerstreut noch, bejahte, fuhr sie fort: »Links daneben ist Gur-Emir. Du siehst es sofort, wenn du am Hotel vorbei bist.« Lächelnd fügte sie hinzu: »Es ist, wenn auch alt geworden, noch immer so schön und erhaben wie zu Timurs Zeiten, wie du es kennst…«
Er lächelte zurück, schüttelte leicht den Kopf. »Du irrst«, sagte er. »Es befand sich gerade im Bau.«
Sie rief ihm noch nach: »Ich belege die Zimmer und warte auf dich in der Halle. Oder brauchst du mich – dort?«
Er stand auf den Terrazzoplatten des Hotelvorplatzes wie tief in Gedanken und schüttelte erst nach einer Weile nachhaltig den Kopf. »Ich brauche dich dort nicht«, antwortete er und wandte sich zum Gehen.
Anora zögerte einen Augenblick, überlegte, ob sie richtig handelte, wenn sie ihn jetzt allein ließ. Es ist ein Abschied, sagte sie sich, ein schmerzlicher vielleicht. Er muß damit fertig werden. Ich kann ihm die Ankunft erleichtern…
Als Nasreddin die Umfassungsmauer des Mausoleums erreichte, strömten ihm aus dem Tor die Insassen des Busses entgegen, ausländische Touristen, die wenig ehrfürchtig in einer mit Zischlauten durchsetzten Sprache schnatterten.
Etwas bänglich schlängelte er sich um den Torpfeiler herum, stand dann fast allein im Hof und sah empor zur Kuppel, die, wie Anora ihm noch im Flugzeug gesagt hatte, ihresgleichen auf dieser ganzen weiten Welt suchte. Und diese Welt sollte wesentlich größer sein, als man zu Timurs Zeiten ahnte…
Im Kopf Nasreddins schoben sich zwei Bilder ineinander. Jenes von der Baustelle, die er oft besuchte, weil selbst sie bereits das erhabene Werk ahnen ließ, und das, was er nun leibhaftig vor sich sah. Und er entdeckte die Identität der Details, und es war ihm, als wäre er bis zur Vollendung des Baus täglich am Ort gewesen. Ihn störte dabei nicht, daß von den gefliesten Rippen der großmächtigen Kuppel einiges abgebröckelt, unansehnlich geworden war, er sah das verwirklicht, was sich damals angedeutet hatte: ein würdiger Bau für den großen Herrscher, einer, der, so wie geplant, ihn um Jahrhunderte überdauern würde. Mußte man ihn nicht für soviel Weitsicht noch über den Tod hinaus loben? Wieso ihn? Was nützt einem Herrscher schon die Weitsicht – Nasreddin lächelte und straffte sich –, wenn er nicht die Leute hat, die sie in Stein und Glasur verwandeln. Und was, Nasreddin, siehst du von dem Herrscher, he? Nichts! Was ist von ihm geblieben? Allenfalls ein Skelett.
Nur im Ausnahmefall bleibt mehr – und er klopfte sich an den Kopf. An einem Skelett kann man nicht den Ruhm, nicht das Wesen – war es ein guter, ein böser Mensch – ablesen; man findet höchstens heraus, ob der Mensch gelahmt hat oder gerade ging. Das einzige Merkmal, an dem man den großen Timur erkannt hat. Und was ist das schon, an seinem Gebrechen erkannt zu werden.
Mit diesen wenig erhabenen Gedanken betrat Nasreddin das Mausoleum, und, was er nicht zu hoffen gewagt hatte, er befand sich fast allein darin.
Wenige Schritte nur führten ihn an den großen gemauerten Sarkophag. Eine niedrig gespannte Kette hinderte ihn, das Gemäuer zu berühren. Nasreddin stand und schaute, und er begann sich zu wundern, daß ihn das alles viel weniger berührte, als er befürchtet hatte. Und obwohl ihm der unvorstellbare Zufall auch in diesem Augenblick bewußt war, klang so etwas wie ein Frohlocken in ihm: Du, Timurlenk, liegst in deinem finsteren und von innen gewiß äußerst unfreundlichen Kasten. Dein Sklave aber, dein Untertan, der unter deiner Herrlichkeit sogar geköpft wurde, der steht hier vor dir frei und
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