Der Geist des Nasredin Effendi
in den Böen. Und jedesmal, wenn es nach oben schlug, quoll darunter ein Schwall Wolle hervor, als spucke ein Riesenungeheuer Schaum. Der Drahtzaun verwandelte sich im Nu in eine weichbauschige weiße Mauer, unten dicker als oben. Aber je stärker diese Mauer anwuchs, desto mehr Flocken fauchten über sie hinweg aus der Enge des Hofes hinaus ins Weite, so als wollten sie zurück auf die Felder.
Zunächst betrachtete Nasreddin das alles mit Genugtuung und Vergnügen. Bei jedem neuen Schwall rief er »Hui!« und machte Armbewegungen, als wollte er das Wehen des Windes noch beschleunigen. Doch dann, als immer mehr Flocken wie von einem Schanzentisch an der sich auffüllenden Zaunmauer gen Himmel schossen, kamen ihm zunehmend Bedenken. Er dachte an seinen schmerzenden Rücken, die rissigen Hände und meinte schließlich, es reiche wohl auch so, dem Vorsitzenden einen Streich gespielt zu haben. Und langsam zunächst, dann hastiger, versuchte er die Plane wieder festzuzurren, allein das ließ sich nicht leicht an.
Die losen Halteseile flogen höher als die Plane. Als Nasreddin mit Mühe eins erhaschte, riß es ihm der Sturm aus den Händen. Schließlich gelang es ihm mit größter Anstrengung, die Seile wieder zu verknoten. Trotz der mit dem Sturm aufgekommenen Kühle schwitzte er, und seine Unterarme wiesen von den rauhen Seilen Schrammen auf.
Der Schober war nun beträchtlich niedriger, dafür türmte sich wie eine Schneewehe Baumwolle hoch zur Zaunkrone, und noch immer, vereinzelt zwar, zogen losgerissene Flocken darüber hinweg in die Freiheit.
Trotz seiner vorübergehenden Bedenken fühlte sich Nasreddin befriedigt, überzeugt, dem Finsterling von Vorsitzendem einen gebührenden Denkzettel verpaßt zu haben.
Der Sturm hatte seinen Höhepunkt erreicht. An dem Zustand, den Nasreddin geschaffen hatte, würde sich kaum mehr etwas ändern. Im Fortgehen überlegte er, wie er es wohl anstellen könnte, am nächsten Morgen des Vorsitzenden Gesicht zu sehen, wenn jener seinen so veränderten Hof vorfinden würde. Allein es schien ihm klüger, sich unauffällig zu benehmen und erst mit den anderen Arbeitern zur Schicht zu erscheinen, und das geschah zu einem Zeitpunkt, zu dem der Vorsitzende meist bereits anwesend war.
Vom Fenster seiner Unterkunft aus konnte Nasreddin den Teil des Hofes nicht sehen, wo er am Abend vorher sein Werk getan hatte.
Kurz bevor sie aufbrechen mußten, sah Igor auf den Hof hinunter. »Da ist was passiert«, sagte er. »Eben rannte einer vorüber, als sei der Leibhaftige hinter ihm her.«
Nasreddin fühlte so etwas wie Stolz. Die letzten Stunden der Nacht hatte ihn die Erwartung des Kommenden nicht mehr schlafen lassen. »Was soll schon los sein?« sagte er obenhin. »Beeil dich!«
Als sie um die Ecke bogen, standen in einigem Abstand zum Schober fast alle im Kreis, die zur Frühschicht gekommen waren. Vor dem Schober aber befand sich eine Gruppe heftig gestikulierender Männer, unter ihnen der Vorsitzende und der Brigadier der Sonderschicht. Sie stritten sich unverkennbar. Mit hochrotem Gesicht wies der Vorsitzende auf den Schober, die Wolle am Zaun, und es schien fast, als wollte er dem Brigadier an die Kehle.
»Was ist passiert?« fragte Igor Josephowitsch neugierig. »Weiß keiner«, antwortete der Gefragte. »Sieh selbst. Gestern haben die Blödiane die Sturmwarnung nicht beachtet. Da hast du die Bescherung. Aber Semjon Semjonowitsch kriegt den Schuldigen, verlaß dich drauf!« Das letzte sagte er mit dem Brustton der Überzeugung und mit sehr viel Vertrauen in der Stimme.
Der Brigadier schien völlig verstört. Mit unglücklichem Gesicht stürzte er von der kleinen Gruppe hinweg zu den Halteseilen, klopfte darauf und schrie, daß sie fest seien und daß er sich selbst davon überzeugt habe. Das machte er mehrmals hintereinander, ohne die rechte Beachtung zu finden. Offenbar hatte er die Aufmerksamkeit auf diesen Umstand bereits lenken wollen, bevor Nasreddin und sein Zimmergefährte auf dem Schauplatz erschienen waren.
Und offenbar auch zum wiederholten Mal schrie der Vorsitzende, daß ihm doch der Brigadier – verdammt noch mal – erklären solle, wie die Baumwolle in den Hof, an den Zaun und sicher zum größten Teil Gott weiß wohin gekommen sei.
Nasreddin war mit einem Hochgefühl gekommen, wie ein Kind, das etwas Besonderes vollbracht hat und nun das Lob der Erwachsenen nicht erwarten kann. Aber schon der Ausspruch des Arbeiters hatte seine Stimmung
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