Der Geist des Nasredin Effendi
länger entziehen, was Malinkin da Brett für Brett freilegte.
Sie standen und starrten. Längst lag das letzte Brett, achtlos fallengelassen, zu ihren Füßen.
»Gratuli ere, Anora!« sagte dann heiser und leise Boderow.
Sie antwortete eine Weile nichts. »Nicht mein Verdienst«, flüsterte sie dann und schüttelte verwundert und wie abwesend den Kopf.
Erst auf den zweiten Blick wurden einem die Jahrhunderte bewußt, die die Tote in ihrer Gruft ruhte. Ein Unbefangener konnte meinen, sie sei unlängst erst bestattet worden – ja, schlummere vielleicht nur.
Und es war ganz sicher keine unbedeutende Frau, die dort lag, kostbarer Schmuck glitzerte im Schein der Kopflampen.
Dann löste sich der pragmatische Isakow aus der Starre. Er hob ei nen Bodenscheinwerfer auf und leuchtete sorgfältig die gesamte Grabkammer ab. »Es muß eine verteufelt gute Ventilation geben. «
Aber niemanden interessierte das im Augenblick.
Plötzlich flüsterte Anora entsetzt: »Man hat ihr den Kopf abge schlagen.« Und mit weit ausgestrecktem Arm deutete sie auf den reichlichen Perlenschmuck, der in mehreren Lagen den Hals der To ten zierte.
In der Tat, im Lichtkegel von Isakows Lampe war es nun deutlich: Das Haupt lag ein, zwei Zentimeter über dem Rumpf. Ein schwärz licher, häßlicher Spalt klaffte da.
»Sei still!«
Die Frau hatte bislang auf dem Mäuerchen gesessen, die Beine angezogen, die Arme um die Knie geschlungen. Ihr Erzählen, anfangs ein wenig stockend, floß munter dahin, ihr Blick, im wesentlichen auf die Stadt gerichtet, streifte nur selten den Mann zu ihren Füßen, der saß, als sei er eingenickt. Beinahe wie aus einem schönen Traum gerissen, fuhr sie zusammen, als er ihr schroff sein »Sei still!« zurief. Sie verstummte, blickte ihn zunächst erstaunt, dann mit großem Verständnis an.
Nasreddin war aufgesprungen, hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt, und er lief mit kurzen Schritten hin und her, dann hinüber zu dem Grabgewölbe. Mit dem Fuß trat er gegen eins der Bretter, die den Eingang provisorisch verschlossen. Es gab nach und stürzte nach innen.
Dann machte er kehrt, blieb jedoch stehen, und man sah es seinem Gesicht an, wie die Gedanken arbeiteten. Noch war er sich nicht schlüssig, noch wußte er nicht genau, worauf diese Frau mit ihrer Erzählung hinauswollte. Aber wenn er überlegte, unter welchen Umständen das alles geschah, welche Vorgeschichte dem zugrunde lag, konnte es wohl nicht anders sein, als daß sich seine Vermutung, dieser Fund, den man hier gemacht hatte, habe etwas mit ihm zu tun, bestätigte, dann war jene Tote…
Mühsam beruhigte er sich. Die Frau wird weitererzählen, sie weiß alles.
Langsam kam Nasreddin zu seinem Platz zurück, setzte sich wie vordem. Er lehnte den Kopf zurück an die Mauer, schloß abermals die Augen und bat: »Bitte, sprich weiter.«
Die Frau hatte ihre Haltung nicht verändert, wenngleich es auf die Dauer auf der Mauer ziemlich hart werden mußte. Sie hatte ihn verständnisvoll beobachtet, seine Reaktionen abgewartet. Im Grunde war sie es zufrieden, wie er mitging, mitdachte. Dennoch fragte sie: »Wirst du es ertragen, auch – wenn es schlimmer wird?«
Ohne seine Haltung zu verändern – nur die Augen öffnete er ein wenig –, antwortete Nasreddin: »Ich werde, entschuldige, daß ich dich unterbrochen habe. Es ist eine spannende Geschichte.« Er lächelte, als würde ihm nichts etwas ausmachen. Aber sie glaubte, daß sie unter dem Lächeln den Schmerz entdeckte. »Also…«, sie sammelte sich, dann wie zu sich selbst, »als wir…, als wir die Tote entdeckt hatten – ach ja…«
» Da ist noch etwas!« Isakow, der eben noch den Hals der Frau be leuchtet hatte, ließ den Lichtfleck zu Füßen der Toten gleiten. Da lag ein Kopf, mit einem Tuch umschlungen, das Gesicht so gerichtet, als sollten die Augen, gingen die Lider auf, die Herrin devot betrachten.
Dann, als wäre ihr die Quadratur des Kreises eingekommen, eilte Anora um den Sarg herum. »Laß mal!« herrschte sie – das in der Gruppe nicht übliche Du gebrauchend – Isakow an, der das Licht von diesem Haupt hinwegführen wollte. Anora kniete nieder, griff mit beiden Händen nach diesem Kopf, hielt mitten in der Bewegung diszipliniert inne. Noch war unklar, ob nicht die nächste, leiseste Berührung das über Jahrhunderte Erhaltene zu Staub zerfallen ließ. Sie schüttelte den Kopf, sagte dann ungläubig: »Das ist Omar!« Sie sah auf, gewahrte
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