Der Geist des Nasredin Effendi
wieder. Trotz allen Ehrgeizes jedes einzelnen arbeiteten die Leute nicht gegenein ander. Anora erinnerte sich daher gern an die beiden archäologischen Expeditionen, an denen sie bereits in Usbekistan teilgenommen hatte, davon schon einmal unter Leitung von Alischer Boderow. Damals hatte sie das seltene Glück, einen bis dahin unbekannten Bruder des Mahmud Chans eindeutig zu identifizieren, und Anora erinnerte sich auch sehr gern des Aufsehens, das dieser Grabfund in der Fach welthervorgerufen hatte. Immerhin bildeten ihre Schlüsse aus den Ergebnissen ein Glied in der Kette, die das Reich Timurs mit dem Norden verband; denn, und das war weniger als eine Hypothese, dieser Bruder war es, der, wahrscheinlich insgeheim, die Wege berei tete, auf denen später der russische Zar in den Süden drang.
Nun, ein solches Ereignis widerfährt einem Archäologen in seiner Laufbahn höchstens einmal, manchem überhaupt nicht. Dazwischen liegen halt die vielen kleinen Mosaiksteinchen, die, oft mühselig ge nug gefunden, zu dem Bild zusammengefügt werden, das wir Histo rie nennen. Anora seufzte zwischen zwei Löffeln der kalten Knob lauchsuppe.
Die fünf Menschen aßen hastig und schweigsam. Von der Luke zur Küche sah Mascha ab und an mißtrauisch herüber, ob die außerge wöhnliche Schweigsamkeit an diesem Mittag womöglich auf den Geschmack des Mahles zurückzuführen sei.
Dann fragte Boderow: »Brauchen Sie Hilfe, Anora? – Oder besser: Kann dort jemand helfen? Es ist doch eng bei Ihnen.«
» Nein«, Anora schüttelte den Kopf. »Wir würden uns behindern. «
Sie fischte die Früchte aus ihrem Kompottglas, stürzte den Saft hinunter und wischte mit dem Handrücken zuerst über den Mund, dann über die Stirn. Die Sonne drückte auf das Wagendach. Es wur de zunehmend stickig im engen Raum. »Ich gehe wieder«, sagte sie dann und erhob sich. Ein Zeichen zum allgemeinen Aufbruch. Von der Küche her schimpfte Mascha, daß sie abermals nicht aufgegessen hatten.
Wenig später lag Anora längelang auf der Seite vor dem Sarkophag und meißelte verbissen auf den gebrannten Lehm ein, darauf ach tend, daß wenig Staub entstand. Sie traf eine Fuge und kam besser voran.
Plötzlich senkte sich das Oberteil des Gemäuers, und ein Riß, der um die Stirnseite herum bis zum Anfang des von Anora geschaffe nen Schrams verlief, vollendete das Mühen. Die junge Frau atmete auf, stützte sich hoch. Dann rutschte sie auf Knien den Riß entlang, kontrollierte seine Durchgängigkeit und erweiterte ihn mit heftigen Schlägen an zwei Stellen so, daß die Haken des Hebezeugs Eingriff finden würden. Und auf einmal fühlte sie sich so erschöpft, als hätten ihre Kräfte gerade noch für diese letzten Anstrengungen gereicht.
Anora mußte sich mächtig mühen, um den Meißel herauszuziehen. Dann ließ sie sich vollends zu Boden sacken, entspannte sich. Ge steinskrümel pikten in ihre Wange, und flüchtig dachte sie, daß ihr Haar dort, wo das enggeschlungene Tuch es nicht bedeckte, endgül tig verkrusten würde. Auf einmal spürte sie unangenehm den Schweiß und ein leichtes Vibrieren der Hände, als bebe in ihnen im mer noch der Meißel. Sie suggerierte sich Ruhe. Als durchflösse sie Strom, so verspannt fühlte sie ihren Körper. Und da empfand sie, wie erregt sie war. Unsinn, sagte sie sich. Es ist nichts in dem Gemäuer, nichts, was der Rede wert wäre. Aber gleichzeitig wußte sie, daß die Härte der Steine, die Sorgfalt des Gefüges und eigentlich das gesamte Gewölbe dagegen sprachen. Es wird Zeit, dachte sie, daß ich die Kol legen rufe. Das Mauerwerk hochzuhieven wird trotz Dreibock und Flaschenzug schwer genug werden.
Aber noch konnte Anora sich nicht aufraffen; endlich fühlte sie, wie ihre Verkrampfung nachließ, wie die Kühle des gestampften Lehms sich ihrem Körper mitteilte, und sie erholte sich langsam. Dann füll ten Bilder ihr Denken, sie erinnerte sich detailliert dessen, was sie schon zweimal hier in dieser Stadt aus Gräbern den heutigen Men schen mit zugänglich gemacht hatte. Sie zwang sich, noch ein paar Minuten liegenzubleiben. Plötzlich aber empfand sie die Kühle als unangenehm. Hastig stand sie auf, wäre beinahe mit dem Kopf gegen das niedrige Gewölbe der Kammer geprallt. Dann mußte sie sich einen Augenblick am Sarkophag abstützen, um den Kreislauf zu be ruhigen.
In einem Anflug von Sarkasmus sagte sie laut, und ihre Stimme klang rauh: »Nun, wir werden sehen, was du bietest!« Sie strich mit
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