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Der Geist des Nasredin Effendi

Der Geist des Nasredin Effendi

Titel: Der Geist des Nasredin Effendi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kröger
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Kein Risiko!
      Anora spürte, wie gut ihr der Spaziergang tat. Die seidige Abend luft durchdrang ihre leichten Gewänder, sog die übermäßige Wärme aus ihrem Körper.
      Nur noch wenige Menschen befanden sich auf der Straße. Auf dem schütteren Mäuerchen, das die niedrigen Spitzbögen der Medrese Kutli-Murad-Inak gegen die Gasse abgrenzte, lagerte neben einem Tisch aus zwei Lehmziegeln und einem Brett ein alter Mann in ei nem fleckigen Chalat mit einem kleinen Turban auf dem Kopf. Auf dem Brett hatte er schwarzrötliche Trauben ausgebreitet; er wartete offenbar auf verspätete Käufer oder saß nur so da… Anora hatte den Eindruck, daß er schlief. Eine Weile nahm sie das Bild in sich auf. Was mochte wohl durch die Träume des Alten geistern?
    Die Silhouette der Minarette und Kuppelbauten stand braundüster vor dem Stück noch hellen Abendhimmels, das man aus der Enge der Gasse überschauen konnte. Wie vor fünfhundert Jahren… Und wür de man sich wundern, wenn aus einer der düsteren Gassen ein Emir träte, eine verschleierte Frau huschte, ein Derwisch? Schlurften nicht Hufe einer verspäteten Kamelkarawane über das großsteinige Pflaster drüben an der Karawanserei? Einen Augenblick dachte A nora an die Geschichte dieses Volkes, die die ihres eigenen war. Wie hatten die letzten sechs Jahrzehnte Welten geschaffen und notwendi gerweise nachhaltig getrennt. Und doch! Wieder ging ihr Blick über den kleinen Platz.
      Zwei, drei streunende Hunde liefen dort lautlos… Solches kann ich auch zu Hause sehen.
      Aber morgen, wenn sie in die Baumwolle ziehen, wenn die Ma schinen über die Felder rattern, wenn Tonne um Tonne aufgescho bert wird, Teil des ehrgeizigen Planes, da war sie wieder da, greifbar, die auseinandertriftende Kluft. Und zum erstenmal hatte Anora den Eindruck, als müsse sie von ihrer Heimat aus nicht nur über den Spalt hinüberschauen, sondern gleichzeitig hoch auf ein ganz ande res Niveau.
    Der Alte vor ihr rekelte sich, richtete sich auf und fuhr mit dem Ärmel über die Nase. Erst dann gewahrte er die Frau und erwachte vollends. Er hob eine prächtige Traube bläulich bestäubten Weins, auf der Wassertröpfchen perlten, und sagte etwas Salbungsvolles, Werbendes auf usbekisch mit hoher Stimme und zahnlückigem Mund. »Wieviel?« fragte Anora mehr zum Spaß auf russisch. »Drei Rubel«, und er unterstützte das Gesagte, indem er drei Finger der rechten Hand spreizte und die Trauben noch höher hob, ihr gleich sam entgegenreckte. »D er beste Wein aus Chiwa, Töchterchen, süß…, koste!« Und er zupfte mit rissigen, dunklen Fingern eine Bee re ab, nötigte durch Gesten, sie möge annehmen.
      Anora biß in die Beere. Der Wein schmeckte wirklich ausgezeich net, was sie jedoch durch nichts verriet. »Kilo?« fragte sie. »Drei Rubel«, wiederholte der Alte, und er hob erneut die Hand und be gann die Vorzüge des Weins zu preisen.
      Anora schüttelte nachhaltig den Kopf. »Ein Kilo ist zuviel, die Traube!« Sie tat, als überlege sie. »Ein Rubel …« Die Traube wog mindestens siebenhundert Gramm.
      Der Mann protestierte murmelnd, legte die Traube auf die Schale einer uralten Küchenwaage. Auf die zweite Schale packte er drei Steine, mit Mühe zogen sie nach unten.
      Anora hielt den kleinen Geldschein in der Hand, wedelte ihn dem Händler entgegen. »Ein Rubel«, wiederholte sie.
      Wieder ein usbekischer Wortschwall. Aber plötzlich hielt er ihr die Traube entgegen, griff mit der anderen Hand nach dem Rubelschein. » Ich wünsche dir einen schönen Abend, Töchterchen. Allah möge dich beschützen!« Und er lächelte breit.
      Anora nahm den Wein, lächelte zurück und neigte den Kopf. Wenngleich es nicht unbedingt ihre Absicht war, Wein zu kaufen, sie war zufrieden, der Alte war es offenbar auch. Und sie dachte an die unzähligen gleichen oder ähnlichen Begebenheiten, die sie erlebt hat te, daheim…
    Es wurde schnell noch dunkler in den engen Gassen zwischen den hohen Lehmmauern, die den Schall der Schritte schluckten. Selten traf sie auf Menschen, und die wenigen, die ihr begegneten, hatten es irgendwie eilig, nach Hause zu kommen, als stiege mit der Finsternis das Böse aus dem Grund. Wurde der Blick in einer Mauerlücke frei, blitzten Lichtreflexe von den keramikgefliesten Kuppeln in den letz ten Strahlen der Sonne.
      Anoras Weg führte durch die dunklen Gewölbe der alten Karawan serei, vorbei an den gemauerten überwölbten Podesten, die jetzt leer und furchteinflößend

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