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Der Gejagte

Der Gejagte

Titel: Der Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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trat ein nachdenklicher Ausdruck auf
sein Gesicht, bevor er verblüfft die Augen aufriss und Andrej anstarrte, als sei ihm soeben etwas eingefallen. »Wenn ich mich recht erinnere, hast du mich so freundlich überredet, zu ihr zu gehen, dass mir
gar keine andere Wahl blieb. Wenn ich ein nachtragender Mensch
wäre…«
»Verdammt, Abu Dun, was tust du hier?«, unterbrach ihn Andrej
unwirsch. »Ist dir nicht klar, was bald geschehen wird? Vielleicht
noch heute?«
»Ich tue genau das, was du von mir verlangt hast«, erwiderte Abu
Dun in hörbar kühlerem, fast distanziertem Ton. »Ich versuche, meine Familie zu beschützen.«
Es dauerte einen Moment, bis Andrej begriff, was Abu Dun damit
sagen wollte. »Sie ist hier?«, fragte er. »Hier in Birgu?«
»Ich konnte sie nicht daran hindern«, antwortete Abu Dun. »Du
weißt ja, wie Frauen sind, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf
gesetzt haben.« Nach kurzem Zögern fragte er: »Hast du eine Spur
von Pedro gefunden?«
Andrej erwog ernsthaft, ihn zu belügen und sich eine Geschichte
auszudenken, die dazu angetan war, Abu Dun und vor allem Julia
dazu zu bewegen, die Stadt wieder zu verlassen - falls das überhaupt
noch möglich war. Dann aber entschied er sich dagegen. »Ja«, sagte
er.
»Wo ist er?«
Es war nicht Abu Dun, der diese Frage stellte. Andrej fuhr abermals
erschrocken herum und starrte die dunkelhaarige Schönheit, die unbemerkt die schmale, geländerlose Treppe auf der anderen Seite der
Mauer heraufgekommen war, an. Dass er Abu Dun nicht bemerkt
hatte, konnte er sich mit einigem guten Willen noch verzeihen, denn
der Nubier war ein Meister im Anschleichen und beherrschte mindestens ebenso viele Tricks wie er. Julia aber war ein ganz normaler
Mensch, noch dazu eine Frau, die sich in ihrem bisherigen Leben
höchstens an ihren Sohn hatte anschleichen müssen, um ihn mit der
Hand im Honigtopf zu erwischen.
»Pedro!«, wiederholte Julia ungeduldig. »Wo ist er?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Andrej.
»Aber gerade habt Ihr doch gesagt…«, begann Julia.
»Ich habe gesagt, dass ich von ihm gehört habe«, unterbrach sie
Andrej mit lauter Stimme, aber in ruhigem Ton. »Ich habe mit La
Valette gesprochen und auch mit Sir Oliver. Macht Euch keine Sorgen. Euer Sohn ist in Sicherheit. Ihm ist nichts geschehen.«
»Ach, und du glaubst diesen Pfaffen?«, fragte Abu Dun. Andrej
fuhr zusammen und warf ihm einen raschen, beschwörenden Blick
zu. Auch wenn sie allein auf diesem Abschnitt der Mauer waren,
sollte sich Abu Dun besser überlegen, was er sagte. So fremdartig
und bizarr ihm Malta manchmal noch erscheinen mochte - in gewisser Hinsicht ähnelte diese Stadt jeder anderen, in der er je gewesen
war. Auch hier hatten die Wände nur allzu oft Ohren.
»Ich glaube Sir Oliver«, antwortete er, was keine direkte Antwort
auf Abu Duns Frage darstellte. »Er hat mir versprochen, dass dem
Jungen nichts geschehen wird. Ganz im Gegenteil. Er befindet sich
augenblicklich in größerer Sicherheit als wir.« Er drehte den Kopf
und sah Julia an. »Ihr solltet die Stadt verlassen. Noch ist es vielleicht möglich.«
»Sicher«, erwiderte Abu Dun spöttisch. »Wir müssen nur vorher
das Fliegen lernen, nicht wahr?«
Andrej schüttelte stur den Kopf. »Nach allem, was ich bisher gehört
habe, greifen die Türken Flüchtlinge nicht an.«
Abu Dun wollte antworten, doch Julia kam ihm zuvor. »Ich verlasse die Stadt nicht ohne meinen Sohn«, sagte sie in einem Ton, der
Andrej klar machte, wie sinnlos jedes weitere Wort sein musste.
Vielleicht gab es auf der ganzen Welt keine Macht, die stärker war
als die Sorge einer Mutter um ihr Kind.
Mit einem resignierten Blick wandte er sich wieder an den Nubier.
»Dann bring sie wenigstens an einen Ort, wo sie sicher ist, wenn der
Angriff beginnt«, sagte er.
»Und wo sollte das sein?«, erwiderte Abu Dun.
Möglichst weit weg von mir, dachte Andrej. Laut antwortete er
nichts, sondern hob nur die Schultern.
Hinter den Hügeln vor der Stadt erhob sich plötzlich Lärm: ein helles Scheppern und Klirren, ein gellendes Johlen und das dumpfe
Trommeln von Pferdehufen, laute Rufe aus Kehlen, die in fremdartigen Sprachen redeten.
Andrej sah, wie Julia dazu ansetzte, eine Frage zu stellen, hob aber
rasch die Hand und wandte seine Aufmerksamkeit ganz nach Osten,
genau wie Abu Dun, der dicht neben ihm an die Brüstung herantrat.
Aus dem misstönenden Crescendo erhob sich der helle Klang Hunderter und Aberhunderter Zimbeln und

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