Der Gejagte
schmetternde, metallische Klang verstummt war,
wurden die ersten Kanonen abgefeuert. Weiße Rauchfahnen erschienen zwischen den Zinnen der Bastion und nur den Bruchteil einer
Sekunde später rollte der dumpfe Donner des Geschützfeuers heran.
Andrej sah, dass nur jedes dritte Geschütz gefeuert hatte, um die
Täuschung, der Mustafa Paschas Truppen offensichtlich tatsächlich
erlegen waren, so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, doch selbst
diese schwache Salve forderte einen grässlichen Blutzoll von den
Angreifern. Die Geschosse rissen blutige Schneisen in die dicht gedrängten Reihen der Gegner. Das Dröhnen der Trommeln und die
Fanfarenstöße hielten immer noch an, doch wurden sie übertönt vom
gellenden Schmerz- und Angstgeschrei aus Hunderten von Kehlen.
Andrej schloss mit einem entsetzten Stöhnen die Augen, als er sah,
dass La Valette offensichtlich befohlen hatte, Kettenkugeln zu laden
- Geschosse, bei denen zwei faustgroße Eisenkugeln durch eine gut
einen Schritt lange geschmiedete Kette miteinander verbunden waren, die wie wirbelnde Sägeblätter unter die feindlichen Truppen fuhren. Ursprünglich einmal waren diese Geschosse zur Vernichtung
von Schiffstakelagen ersonnen worden. Auf kurze Distanz und auf
ein Ziel gerichtet, das weder ausweichen konnte noch über irgendeinen Schutz verfügte, war ihre Wirkung verheerend.
»Noch nicht feuern!«, befahl La Valette. »Die Türken wissen, wie
lange wir brauchen, um unsere Kanonen nachzuladen. Wartet so lange.«
Starkey gab seinen Befehl an den Mann weiter, der das orangefarbene Tuch schwenkte, und die improvisierte Signalflagge zeichnete
ein neues, kompliziertes Muster in die Luft.
Andrej zählte in Gedanken langsam bis fünfundzwanzig, dann erscholl erneut das dumpfe Krachen einer Kanonensalve, und diesmal
war die Wirkung noch katastrophaler. Andrej schätzte, dass allein
diesen ersten beiden Salven ein gutes Zehntel der Männer zum Opfer
gefallen war, die Mustafa Pascha gegen die Stadt geschickt hatte.
Und dabei hatten sie bisher nur einen Bruchteil ihrer wahren Feuerkraft eingesetzt.
La Valette schlug sich mit der Faust in die flache, knochige Hand.
»Sie sind tatsächlich darauf hereingefallen«, sagte er. Seine Stimme
klang ungläubig, war aber zugleich von einer wilden Hoffnung erfüllt. »Möge Gott der Seele dieses tapferen Novizen gnädig sein, der
ihnen die falsche Information gab. Haltet die Geschütze bereit, Starkey! Auf mein Zeichen feuert aus allen Rohren!«
Andrej maß den greisen Großmeister mit einem ungläubigen Blick.
Starkey wirkte eher überrascht. Auch für die Augen eines gewöhnlichen Menschen war es inzwischen unübersehbar, dass die Männer,
die sich immer noch den Festungsmauern näherten, keine Soldaten
waren. Selbst für einen Mann, der weniger von Strategie und Kriegsführung verstand als La Valette, musste überdeutlich sein, dass dieser
Angriff einem völlig anderen Zweck diente, als die Mauern der Festung zu erstürmen.
Verwirrt und alarmiert zugleich drehte sich Andrej um und suchte
die Spitze des Kirchturmes. Der Glockenturm war das höchste Gebäude in Birgu und selbstverständlich hatte Starkey Späher mit
scharfen Augen und guten Fernrohren dort hinaufgeschickt. Sollten
sich irgendwo in weitem Umkreis weitere türkische Truppen zeigen,
so würde dort sofort eine rotschwarze Signalflagge gehisst werden.
Doch auf dem Turm rührte sich nichts.
»Jetzt!«, befahl La Valette.
Der Mann hinter ihm schwenkte sein orangerotes Tuch, und diesmal feuerten sämtliche Geschütze der kastilischen Bastion. Ein ganzer Mauerabschnitt verschwand hinter brodelndem weißen Qualm
und aufblitzenden, rot- und orangefarbenen Flammen. Dieses Mal
war es keine Einbildung: Der Stein unter ihren Füßen erzitterte tatsächlich leicht.
Nur einen halben Herzschlag später verwandelte sich das Gelände
unmittelbar vor der Burgmauer in ein Szenario der Hölle.
Die Geschützsalve schlug mit mörderischer Präzision direkt im
Herzen von Mustafa Paschas Truppen ein. Andrej war beinahe dankbar für den dichten Pulverqualm und die gewaltigen Staub- und Erdwolken, die die Geschützsalve aufwirbelte, denn sie ersparten es ihm,
einen Großteil der Schreckensbilder zu sehen. Doch er hörte den
nicht enden wollenden Chor gellender Schmerz- und Todesschreie,
der selbst das Dröhnen der Kanonen und die aufpeitschende Musik
aus dem Lager der Türken übertönte und kein Ende nehmen zu wollen schien. Geschundene Körper wurden in die
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