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Der Gejagte

Der Gejagte

Titel: Der Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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ausgerichtete Gassen,
durch die die Flüchtenden hindurchstürmen konnten.
Und dann sah Andrej etwas, das ihm schier das Blut in den Adern
gerinnen ließ: Die Kastilier hatten das Tor ihrer Bastion geöffnet und
setzten den Flüchtenden nach! Angeführt von einer Schar prachtvoll
gekleideter, berittener Ordensritter, stürmten die Milizen, die eigentlich hinter den Festungswällen in Reserve stehen sollten, auf das
Schlachtfeld hinaus und verschwanden sofort in den brodelnden
Staubwolken.
»Um Gottes willen, La Valette«, flüsterte er. »Ruft sie zurück! Es
ist eine Falle!«
Plötzlich war ihm alles klar. So klar, dass er sich vergeblich fragte,
wieso er nicht gleich begriffen hatte, was dieses scheinbar so sinnlose und menschenverachtende Manöver sollte.
Auch La Valette wirkte überrascht und sichtlich beunruhigt. Er hatte das Fernglas wieder angesetzt und starrte zu Mustafa Pascha hinüber. Der Ausdruck auf seinem Gesicht wurde mit jedem Herzschlag,
der verging, besorgter. Schließlich setzte er das Glas ab und schüttelte den Kopf. »Wenn es eine Falle wäre, hätten uns die Späher gewarnt«, sagte er. »Vom Kirchturm aus kann man das Gelände hinter
den Hügeln einsehen.«
Andrej fuhr wie von der Tarantel gestochen herum und starrte zur
Kirche hin. Von der schwarzroten Signalfahne, mit der die Männer
dort oben die Verteidiger vor einem Hinterhalt einer verborgenen
Truppenbewegung oder einem anderen unerwarteten Manöver der
Türken warnen sollten, war nichts zu sehen. Und dann - endlich -
verstand er.
Andrej machte sich nicht die Mühe, die Treppe hinunterzustürmen.
Ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, was sich die
Anwesenden dabei denken mochten, sprang er die fünfzehn Fuß bis
zur Straße einfach hinunter, rollte sich ab und kam mit einem federnden Satz wieder auf die Beine. Noch im Aufspringen zog er sein
Schwert und rannte mit gewaltigen Sätzen los. Er nahm keine Rücksicht mehr, sondern stieß jeden, der ihm nicht schnell genug aus dem
Weg ging, einfach beiseite. Binnen weniger Augenblicke hatte er die
halbe Entfernung zurückgelegt und schwenkte auf die schmale
Hauptstraße ein, die direkt zur Kirche führte.
Auf halbem Wege kam ihm eine rußverschmierte Gestalt entgegen
- Romegas. Er war in Schweiß gebadet und vielleicht zum ersten
Mal, seit Andrej ihn kannte, blickte er ihn nicht voller Verachtung
und Hass an. Seine Augen leuchteten in einem wilden Triumph.
»Romegas, was tut Ihr hier?«, fuhr Andrej ihn an. »Hattet Ihr nicht
einen Befehl Sir Olivers?«
Der Spanier wischte seine Worte mit einer unwilligen Bewegung
aus der Luft. »Sie fliehen!«, rief er triumphierend. »Sie rennen wie
die Hasen! Die jungen Ritter sind nicht mehr zu halten! Und sie haben Recht! Wenn wir jetzt die Gelegenheit nutzen, können wir die
Türken bis zu ihren Schiffen zurücktreiben, und wenn sie nicht
schnell genug sind, gleich ins Meer!«
»Seid Ihr blind?«, fragte Andrej fassungslos. »Ihr wart doch dort
oben! Ihr habt gesehen, wen Mustafa da in den Kampf geschickt hat!
Eure tapferen jungen Ritter laufen in den sicheren Tod.«
»Aber…«, begann Romegas. Er wirkte verunsichert.
»Mustafa Pascha hat diesem armen Jungen nie geglaubt, begreift
das doch!«, unterbrach ihn Andrej. »Er wusste genau, dass die Bastion nicht unsere schwächste Stelle war! Er hat den Angriff nur befohlen, um Eure Männer hinter den Mauern hervorzulocken, Ihr Narr!«
Für einen Moment wirkte Romegas vollkommen entsetzt. Das
Leuchten in seinen Augen verschwand und Andrej sah ihm an, dass
er dicht davor stand, in Panik zu geraten. Dann gab er sich einen
sichtbaren Ruck und die wohl bekannte Mischung aus Verachtung
und mühsam zurückgehaltenem Hass machte sich wieder auf seinen
Zügen breit. »Mit Verlaub, Chevalier Delãny«, sagte er kühl. »Aber
Schlachten werden nun einmal mit dem Schwert in der Hand entschieden. Wir sind im Vorteil. Selbst wenn Ihr Recht haben solltet -
Mustafas Truppen sind in Unordnung geraten. Der Sieg ist zum Greifen nahe.«
Andrej wollte widersprechen, doch diesmal war es Romegas, der
ihn mit einer ärgerlichen Bewegung unterbrach und in schärferem
Ton fortfuhr: »Die Malteser und die jungen Ritter sind wie tolle
Hunde. Selbst wenn ich wollte, könnte ich sie nicht mehr zurückhalten. Die meisten von ihnen haben zum ersten Mal in einer Schlacht
gekämpft. Sie haben Blut geleckt, und sie wollen mehr.«
»Das werden sie bekommen«, versetzte Andrej düster. »Nur

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