Der Gejagte
Spitzhacken oder Schaufeln dabei. Zwischen den Männern drängten sich vereinzelt Musketenschützen und wenige Krieger, die große, offenbar in aller Hast
angefertigte Schilde aus Reisig schleppten - ein erbärmlicher Schutz
vor dem, was die unglückseligen Soldaten erwartete.
Auch die zweite Reihe war nicht das, womit Andrej gerechnet hätte. Sie bestand aus Kriegern, die mit Speeren, Krummsäbeln und
Schilden gewappnet waren. Über ihren Köpfen wehten dreieckige
Seidenbanner in schillernden Farben. Diese Männer waren nicht in
Lumpen gehüllt, sondern trugen gepflegte Kleidung, die jedoch keinerlei besonderen Schmuck aufwies. Die meisten waren in weite Hosen aus rotem und grünem Tuch gekleidet, dazu in lange Hemden mit
aufgebauschten Ärmeln. Nur sehr wenige hatten einen Helm oder gar
einen Harnisch. Selbst die Offiziere erschienen ihm so gut wie ungepanzert, schmückten sich dafür aber mit umso auffälligeren Pfauenfedern an den Turbanen, mit goldenen Armbändern und Ketten und
breiten Gürteln, in denen goldene Dolche mit emaillierten Griffen
steckten.
Andrej ließ das Glas mit wachsender Verblüffung weiterwandern
und entdeckte auf dem Hügelkamm schließlich einen alten Mann mit
hartem Gesicht. Er war weder besonders groß noch von beeindruckender Statur, und dennoch wusste Andrej sofort, wen er vor sich
hatte. Der Mann saß auf einem prächtigen weißen Araberhengst mit
rotgoldener Schabracke. Seine Gewänder bestanden aus kostbarer
Seide. Allein sein mächtiger weißer Turban, um den Ketten aus Perlen und Smaragden geschlungen waren, mochte den Gegenwert einer
voll ausgerüsteten Kriegsgaleere darstellen, von den Edelsteinen an
seinen Fingern, um seinen Hals und über der breiten Schärpe, die er
anstelle eines Gürtels trug, gar nicht zu reden. Das musste Mustafa
Pascha sein, der türkische Heerführer. Andrej hatte von diesem Mann
gehört. Man erzählte sich, seine Familie ginge in direkter Linie auf
den Standartenträger des Propheten Mohammed zurück. Ob das nun
die Wahrheit war oder nicht - Mustafa Pascha war ein Fanatiker und
einer der erbarmungslosesten Männer, die jemals gegen die Christenheit gezogen waren; ein Mann, von dem niemand in dieser Stadt
Pardon zu erwarten hatte.
»Nun, Chevalier Delãny, was seht Ihr?«, wiederholte La Valette
seine Frage.
Andrej setzte das Glas ab. Er wusste nicht, was er erwartet hatte,
aber das war… Irrsinn! »Ich sehe keine Janitscharen«, sagte er zögernd. »Er hält seine besten Truppen noch zurück.«
»Ich würde sagen, er hält seine Truppen zurück«, verbesserte ihn
Starkey. »Das da sind keine Krieger. Wenn Ihr mich fragt, sind es
Sklaven, die sie in Uniformen gesteckt und denen sie die Wahl gelassen haben, auf der Stelle enthauptet zu werden oder mit viel Glück
diesen Angriff zu überleben.«
»So ist es«, bestätigte La Valette. Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn, und plötzlich wirkten seine Augen nicht mehr trüb und
vom Alter gezeichnet, sondern hellwach. »Wahrscheinlich ist das
Ganze nur ein Ablenkungsmanöver«, fuhr er nachdenklich fort.
»Diese verdammten Hügel! Ich wünschte, wir könnten das türkische
Heerlager nur halb so gut einsehen, wie sie unsere Befestigungen.
Sie planen irgendetwas.«
Andrej hätte ihm gerne widersprochen, doch er konnte es nicht.
Mustafa Pascha wusste, dass die Männer, die er gegen die Festungsmauer schickte, schon so gut wie tot waren.
Die vordersten Reihen der Angreifer waren immer noch mehr als
fünfhundert Schritte vom Festungsgraben entfernt. Gegenüber, auf
der Bastion der Kastilier, krachten bereits die ersten Musketenschüsse, doch das war reine Munitionsverschwendung. Dennoch marschierten die Männer in den sicheren Tod. Mustafa Pascha war kein
Dummkopf. Andrej wusste, wie wenig ihm ein Menschenleben galt,
auch wenn es sich um seine eigenen Soldaten handelte, doch er würde nicht eine so große Anzahl von Männern - und seien es tatsächlich
nur Sklaven - opfern, ohne dass er sich etwas davon versprach.
»Fanfaren!«, befahl La Valette.
Starkey gab den Befehl mit einem entsprechenden Wink an einen
der Männer in ihrer Begleitung weiter. Der Krieger zog ein auffälliges orangerotes Tuch unter seinem Gewand hervor und schwenkte es
zweimal hoch über seinem Kopf. Einen Moment später erscholl von
den Zinnen des Forts herab ein schmetternder Fanfarenstoß. Das war
das vereinbarte Signal für die Geschütze auf der kastilischen Bastion.
Noch bevor der
Weitere Kostenlose Bücher