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Der Gejagte

Der Gejagte

Titel: Der Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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spürte den Hieb kommen, bevor er seine
Schläfe traf, doch sein verzweifeltes Bemühen, ihm auszuweichen
oder ihn abzuwehren, kam zu spät.
Der Schlag löschte sein Bewusstsein mit solcher Plötzlichkeit aus,
dass er nicht einmal mehr spürte, wie er auf dem blutbesudelten Boden des Glockenturmes zusammenbrach.
Sein Hals schmerzte, als er erwachte, und er war an Händen und
Füßen gefesselt. Als er die Augen öffnen wollte, konnte er es nicht.
Jemand hatte ihm eine Augenbinde angelegt. Dafür verrieten ihm
seine anderen Sinne, dass er nicht mehr im Glockenturm und auch
nicht mehr in der Kirche war. Noch bevor er sich selbst die Frage
stellen konnte, wohin man ihn stattdessen gebracht hatte, verriet ihm
der scharfe Geruch, der in der Luft lag, die Antwort. Er war wieder
in der Pulverkammer. Die harte Unterlage, auf der er erwacht war,
war vermutlich derselbe niedrige Tisch, auf dem sie den Leichnam
des Jungen aufgebahrt hatten. Vielleicht war sogar das Tuch, mit
dem man ihm die Augen verbunden hatte, dasselbe, das dessen Gesicht bedeckt hatte. Unwillig schüttelte er den Kopf und versuchte, es
auf diese Weise abzustreifen, doch es gelang ihm nicht; ebenso wenig wie es ihm gelang, die kräftigen Lederriemen zu zerreißen, mit
denen seine Hand- und Fußgelenke gefesselt waren.
»Gebt Euch keine Mühe«, sagte eine hämische, wohl bekannte
Stimme irgendwo in der Dunkelheit links von ihm. »Ich habe sie
selbst gebunden. Nicht einmal ein Ochse könnte diese Riemen zerreißen.«
»Romegas?«, fragte Andrej verständnislos.
Die Antwort bestand aus einem kehligen Lachen, in dem etwas mitschwang, das Andrej einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen
ließ. »Immerhin erinnert Ihr Euch noch an meinen Namen, Delãny -
oder wie immer Ihr auch in Wirklichkeit heißen mögt. Eine erstaunliche Leistung für einen toten Mann.«
»Was soll das heißen?«, fragte Andrej unwirsch. Er versuchte sich
aufzusetzen und zumindest das gelang ihm, auch wenn ihm prompt
schwindelig wurde und der pochende Schmerz in seinem Kopf zunahm. Als er erwacht war, hatte er unter einer rauen Decke gelegen,
die nun von seinen Schultern glitt und raschelnd zu Boden fiel. Die
kalte Luft, die über seine Haut strich, machte ihm klar, dass er nackt
war.
»Was soll das?«, murmelte er, mehr verwirrt als wütend. Erneut
zerrte er an seinen Fesseln. Die fast fingerdicken Lederbänder knarrten hörbar, hielten aber. Trotzdem war Andrej zuversichtlich, sie
zerreißen zu können, wenn es sein musste.
»Eigentlich bin ich es, der diese Frage stellen müsste«, antwortete
Romegas’ Stimme. »Aber ich stelle lieber eine andere - und ich gebe
Euch den guten Rat, sie mir zu beantworten. Wer seid Ihr?«
Andrej kramte in seinem Gedächtnis und versuchte sich zu erinnern, was passiert war und wie er dorthin gekommen war. Er wusste
es nicht. Er war in den Glockenturm hinaufgestiegen, und dann…
nein. So sehr er sich auch den Kopf zermarterte, seine Erinnerungen
hörten an dem Punkt auf, als er die Toten in ihrer sonderbaren Haltung gefunden hatte.
»Nehmt mir diese verdammte Augenbinde ab«, verlangte er. »Ich
sehe gern ins Gesicht des Mannes, mit dem ich rede.«
Er hatte nicht damit gerechnet, doch es verging nur ein kurzer Moment, dann trat Romegas heran und riss mit einem Ruck die Binde
von seinen Augen. Andrej blinzelte in das gelbe Licht, das durch die
offen stehende Tür hereindrang, bevor sich seine Augen umstellten
und er mehr als nur Schatten und ineinander fließende Umrisse erkennen konnte. Seine Vermutung war richtig gewesen. Er war wieder
in der Pulverkammer und auch der Tisch, auf dem er lag, war derselbe, auf dem der Junge gelegen hatte. Das war sicher kein Zufall.
»Nun, ich habe Euren Wunsch erfüllt, Chevalier«, sagte Romegas.
Er betonte das letzte Wort auf eine so seltsame Art, dass Andrej ihn
nur verwirrt anstarren konnte. »Jetzt seid Ihr an der Reihe, Euren Teil
der Abmachung zu erfüllen. Also: Wer seid Ihr wirklich?«
»Ich verstehe nicht, was Ihr von mir wollt«, antwortete Andrej.
»Bis vor einer Stunde habe ich Euch nur für einen türkischen Spion
und Verräter gehalten«, erwiderte Romegas.
»Aber ich fürchte, ich muss Euch Abbitte leisten, denn damit habe
ich Euch sicherlich Unrecht getan. Ihr seid etwas viel Schlimmeres.
Ich weiß nur immer noch nicht genau, was.«
Allmählich begann sich ein ungutes Gefühl in Andrej auszubreiten.
Erneut versuchte er sich zu erinnern, was geschehen war, und

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