Der Gejagte
Oliver. »Es tut mir Leid,
aber das ist alles, was ich für dich tun kann. Und deine Frist läuft. Du
verschwendest also besser keine Zeit mit ohnehin nutzlosen Bitten,
sondern machst dich an die Arbeit.«
Er selbst ging mit gutem Beispiel voran, verließ die Kammer und
zog die Tür hinter sich zu. Nur einen Moment später konnte Andrej
hören, wie der Schlüssel von außen im Schloss gedreht wurde. Er
war gefangen. Ihm war klar, dass die Tür selbst seinen enormen Körperkräften widerstehen würde. Wenn Starkey nicht zurückkam, um
ihn zu befreien, dann saß er dort fest, ohne die geringste Chance, aus
eigener Kraft jemals wieder herauszukommen.
Doch das war Unsinn. Wenn Starkey ihn in eine Falle hätte locken
wollen, hätte er das weitaus bequemer haben können und mit erheblich weniger Aufwand. Der Engländer hatte Recht. Jeder Moment,
den er mit unnötigen Grübeleien vertat, würde ihm später schmerzhaft fehlen. Er setzte sich auf den Hocker, der tatsächlich noch unbequemer war, als er aussah, und nahm das erste Pergament zur Hand.
Mutlosigkeit machte sich in ihm breit, als er es entrollte und sah,
dass es vermutlich in einem arabischen Dialekt abgefasst war. Zumindest waren die Schriftzeichen arabisch; die Sprache selbst war
ihm vollkommen unbekannt. So wie das Pergament aussah, musste
sie uralt sein.
Und so ging es weiter. Ein anderer Mann hätte sich vielleicht entmutigen lassen und aufgegeben, denn auch, wenn er die meisten Pergamente und Bücher, die er sich nach und nach vornahm, lesen konnte, so war die Fülle der Informationen, die in ihnen enthalten war, so
gewaltig, dass er vermutlich eine Woche brauchen würde, um sich
auch nur einen ersten groben Überblick zu verschaffen, und sicherlich ein Mehrfaches dieser Zeit, um wirklich zu verstehen, was er las.
Dennoch gab er nicht auf. Und nach einer Weile begann er tatsächlich auf die ersten Spuren dessen zu stoßen, wonach er suchte.
Andrej hätte hinterher nicht sagen können, wann er anfing zu begreifen.
Manches von dem, was er bei seiner eher zufälligen Lektüre, bei
der keine andere Wahl blieb, als sich auf sein Glück zu verlassen,
fand, war ihm schon bekannt. Anderes waren bloß Mythen und Legenden, in denen wohl ein Körnchen Wahrheit verborgen sein mochte, doch wie sollte er das herausfinden? Vieles war Unsinn und entsprach nicht der Realität, wie er Starkey aus eigener Erfahrung hätte
sagen können. Einiges war ihm neu und überraschte oder erschreckte
ihn. Aber nach und nach, ganz allmählich, begann sich ein Bild herauszukristallisieren, das so schrecklich - und zugleich so eindeutig -
war, dass er sich anfangs schlichtweg weigerte, es zu akzeptieren.
Für eine Weile klammerte er sich an die alberne Vorstellung, er hätte
das Gelesene falsch verstanden oder Starkey und der Großmeister
hätten all das nur arrangiert, um sich einen bösen Streich mit ihm zu
erlauben. Doch zugleich wusste er, dass es die Wahrheit war, so als
sei dieses Wissen bereits die ganze Zeit über tief in ihm vorhanden
gewesen und diese Aufzeichnungen hätten ihm lediglich die Augen
geöffnet.
Als Starkey - lange nach Ablauf der vereinbarten Stunde - schließlich kam, um ihn abzuholen, musste er ihn dreimal ansprechen, bevor
Andrej seine Anwesenheit wahrnahm.
»Das… das hättet Ihr mir sagen können«, murmelte Andrej.
Starkey betrachtete ihn kühl, schloss den Schrank wieder auf und
begann, die Bücher und Pergamente in der gleichen Reihenfolge zurückzutragen und einzusortieren, in der er sie herausgeholt hatte. Erst
nachdem er damit fertig war und die Türen wieder sorgsam verschlossen hatte, wandte er sich zu Andrej um und sah ihn abermals
auf die gleiche kühle und mitleidlose Weise an.
»Ich habe niemals behauptet, dass dich freuen wird, was du erfährst«, sagte er. »Im Gegenteil. Wenn ich mich recht entsinne, habe
ich dich gewarnt. Wir Menschen sind seltsame Wesen, findest du
nicht? Wir behaupten von uns, immer auf der Suche nach der Wahrheit zu sein, aber wenn wir ehrlich wären, würden wir zugeben, dass
wir sie nur allzu oft gar nicht kennen wollen.« Er deutete zur Tür.
»Deine Zeit ist um. Wir müssen jetzt gehen. Es wäre nicht gut, wenn
man uns zusammen sieht, und schon gar nicht hier.«
Andrej erhob sich gehorsam und verließ die Kammer, doch die wenigen Schritte auf den Flur hinaus bereiteten ihm große Mühe. Es
war, als drücke die Last dessen, was er gerade erfahren hatte, ihn
nieder.
Starkey folgte ihm,
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