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Der Gejagte

Der Gejagte

Titel: Der Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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erteilen zu können, Heide?«, fauchte er.
»Der Mann, der dich töten wird, wenn du meinem Wunsch nicht
nachkommst, alter Mann«, entgegnete Abu Dun leise.
La Valette riss ungläubig die Augen auf. Auch Starkey und die umstehenden Soldaten, die Abu Duns Worte gehört hatten, wirkten fassungslos. Schließlich fing sich La Valette wieder und brachte zumindest ein empörtes Krächzen zustande. Aber da hatte sich Abu Dun
schon umgedreht und zwei der Soldaten, die ihm im Weg standen,
grob beiseite gestoßen, um hoch aufgerichtet und mit schnellen
Schritten in der Menschenmenge zu verschwinden.
24. Mai 1563, eine Stunde später, im Ordenshaus der Johanniter
    Vor einer halben Stunde hatten die Geschütze, die die Türken im
Laufe der letzten Tage auf den Hügeln östlich und nördlich der Stadt
in Stellung gebracht hatten, zu feuern begonnen. Bisher waren es nur
vereinzelte Salven, die keinen nennenswerten Schaden anrichteten
und höchstens das eine oder andere Dach abdeckten oder Steinsplitter aus einer Zinne schlugen. Diese Schüsse gaben den türkischen
Geschützmeistern die Gelegenheit, sich einzuschießen und die Positionen ihrer Kanonen zu überprüfen. Soviel Andrej wusste, hatte es
in der Stadt bisher weder Verletzte noch Tote gegeben. Und dennoch
begann das schwache, aber regelmäßige Feuer bereits Wirkung zu
zeigen. Schlimmer als der materielle Schaden, den die Kanonenkugeln anrichteten, war die Botschaft, die das dumpfe Grollen der türkischen Geschütze in die Stadt schickten.
    Bisher hatten die Menschen die gewaltigen Geschützbatterien, die
der Feind rings um sie herum in Stellung gebracht hatte, höchstens
gesehen. Nun hörten sie sie, und es gab niemanden, der nicht wusste,
dass aus dem dumpfen Grollen eines noch entfernten Gewitters bald
das Dröhnen eines apokalyptischen Sturmes werden würde, der so
sicher über sie hereinbrechen würde, wie die Sonne jeden Abend
unter- und am Morgen wieder aufging.
    »Ich begreife nicht, worauf sie warten«, murmelte Starkey. Er stand
neben Andrej an einem der großen Fenster des Kapitelsaals und
blickte nach Osten. Der Raum lag hoch genug, dass sie über die
Stadtmauer hinwegsehen konnten. Über die große Entfernung hinweg und im klaren, hellen Licht des frühen Abends boten die Furcht
einflößenden Geschützbatterien einen herrlichen Anblick, denn die
Sonnenstrahlen spiegelten sich auf ihren polierten Rohren wie auf
unzähligen blanken Münzen, die ein spielender Riese auf den Hügeln
verteilt hatte. Die Janitscharen, die in sicherer Entfernung vor den
Geschützen in Stellung gegangen waren, wirkten wie eine Schar bunt
gekleideter Kinder. Der Anblick war auf eine so groteske Weise farbenfroh und fröhlich, dass es Andrej schwer fiel, sich vor Augen zu
führen, wie tödlich die Gefahr war, die er für die Stadt und jedes Lebewesen innerhalb ihrer Mauern bedeutete.
    »Sie ziehen immer noch Truppen zusammen«, beantwortete er mit
einiger Verspätung Starkeys Frage. »Erst heute Morgen sind weitere
Schiffe in der Bucht gesichtet worden.«
    Starkey seufzte. Er hatte die Antwort auf seine eigene Frage ebenso
gut wie Andrej gekannt. »Ein Riese, der zum Kampf gegen ein lahmes Kind rüstet und darauf wartet, dass er noch Verstärkung bekommt«, sagte er kopfschüttelnd. »Mustafa Pascha muss uns wahrlich hassen.«

»Hat er nicht allen Grund dazu?«, fragte Andrej.
Starkey warf ihm einen ungehaltenen Blick zu, war aber klug genug, nicht auf diese Frage zu antworten. Stattdessen schloss er das
Fenster und sperrte auf diese Weise, wenn schon nicht die unerträgliche Nachmittagshitze, so doch zumindest einen Teil der gleißenden
Helligkeit aus, was wenigstens die Illusion von Kühle schuf.
    Auch Andrej drehte sich vom Fenster weg und ließ seinen Blick
durch den großen Raum schweifen. Der Kapitelsaal zeigte keine
Spuren des wütenden Kampfes mehr, der dort getobt hatte. Alle zerbrochenen Möbel waren hinausgeschafft und durch neue ersetzt, zerrissene Fahnen und Bilder repariert oder ebenfalls ausgetauscht worden. In der Luft lag noch immer der schwache Geruch von Kernseife,
mit der die Bediensteten versucht hatten, das Blut aus den Ritzen des
Bodens zu schrubben. Angesichts dessen, was der Stadt bevorstand,
erschien Andrej die Anstrengung, die auf La Valettes Befehl hin auf
die Wiederherstellung dieses Saals verwandt worden war, widersinnig und unnötig.
    Das dumpfe Krachen einer weiteren Geschützsalve riss ihn aus seinen Gedanken. Einen

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