Der Gejagte
Ordens trugen. Erst als
er mehr als die halbe Strecke zurückgelegt hatte, sah er auch den
zweiten, kaum weniger alten Mann, der, über ein Pergament gebeugt,
neben dem Großmeister stand: Sir Oliver Starkey, den Sekretär des
Großmeisters und der letzte noch lebende Ritter der einst so mächtigen Ordensprovinz England. Er hatte ein gütiges, weltoffenes Gesicht, dem eine gewisse Härte anhaftete, das aber trotzdem gerne
lachte. In seinen Augen spiegelte sich eine kompromisslose Lebensbejahung, obwohl es von ihm hieß, dass er monatelang in den Kerkern Heinrich VIII. gefoltert worden sei, weil er sich geweigert hatte,
den Namen des Papstes zu verfluchen, dem Ritterorden abzuschwören und der anglikanischen Kirche beizutreten. Andrej begrüßte auch
ihn mit einem respektvollen - und etwas wärmeren - Nicken, bevor er
sich wieder dem Großmeister zuwandte.
Jean Parisot de la Valette, der Großmeister des Ritterordens des
Hospitals vom heiligen Johannes zu Jerusalem, war ein Mann gänzlich anderer Art. Ein schlohweißer, leicht gelockter Spitzbart umrahmte sein schmales, fast schon asketisch wirkendes Gesicht. Seine
hohe Stirn war von einer tiefen Falte über der Nasenwurzel gefurcht,
was ihm zusammen mit den schmalen Lippen und den stets ärgerlich
zusammengezogenen Augen einen verbissenen, manchmal fast mürrischen Ausdruck verlieh. Von der Sonne und den Stürmen des Mittelmeeres gegerbt, war seine Haut von dunkler und gesunder Farbe
und seine aufmerksamen grauen Augen hätten eher ins Antlitz eines
jugendlichen Ritters gepasst als in das eines siebzigjährigen Mannes.
La Valette hielt sich stets kerzengerade und obwohl er von eher
schmalem Wuchs war, strahlte er eine Kraft aus, die alle anderen in
seiner Gegenwart in ihren Bann schlug.
Er vermied jeglichen Pomp und Luxus, der mit seinem Amt hätte
verbunden sein können. Meist sah man ihn nur mit einer einfachen
Hose und einem alten, abgewetzten Wams bekleidet. Wer es nicht
besser wusste, hätte ihn für einen einfachen Soldaten halten können.
Nur wenn bedeutende Gäste empfangen wurden, fand man an seiner
Tafel ein üppigeres Mahl als auf dem Tisch eines Fischers oder Bauern.
Der Großmeister galt als ehrgeizig, energisch, stur und unbeugsam.
Manche nannten ihn sogar skrupellos. Ganz sicher war er erbarmungslos, wenn ein Ordensangehöriger oder Untergebener auch nur
das geringste Anzeichen von Faulheit oder gar Feigheit zeigte. Doch
nie verlangte er von seinen Rittern ein Risiko, das er nicht selbst einzugehen bereit gewesen wäre.
La Valette diente dem Orden nun schon seit mehr als fünfzig Jahren. Er hatte alle wichtigen Ämter bekleidet, bevor er zum Großmeister gewählt wurde. Er war sogar ein Jahr lang Rudersklave auf einer
türkischen Kriegsgaleere gewesen, nachdem sein eigenes Schiff von
Piraten gekapert worden war. Es war die einzige Niederlage gewesen, die La Valette jemals hatte hinnehmen müssen. Es hieß, er habe
damals gekämpft, bis er ohnmächtig zusammengebrochen sei, weil er
so viele Wunden davongetragen hatte, dass der schiere Blutverlust
das bewerkstelligte, was der Übermacht der Piraten nicht gelungen
war. Andrej glaubte diese Geschichte spätestens seit dem Moment, in
dem er La Valette zum ersten Mal begegnet war. Wer schwer verletzt
ein Jahr als Galeerensklave überlebte, der musste schier übermenschliche Willenskraft haben. Selbst ein gesunder, kräftiger Mann schaffte es angesichts der unbarmherzigen Zustände an Bord oft nicht, so
lange am Leben zu bleiben. La Valette hatte es geschafft, weil er den
festen Willen und die innere Stärke besaß.
Es war diese Geschichte gewesen, die Andrej veranlasst hatte, sich
dem Orden anzuschließen. Trotz seines beharrlichen Festhaltens an
einer Vergangenheit, die nie wiederkommen würde, trotz seiner Unbeugsamkeit und seines religiösen Eifers, war La Valette in seinem
tiefsten Innern ein Seelenverwandter. Ein sterblicher Mensch zwar,
kein Unsterblicher wie Abu Dun und Andrej, aber dennoch verband
sie mehr als die meisten anderen Menschen. Andrej zweifelte nicht
daran, dass auch andere die Aura unbeugsamen Willens und uralter
Macht spürten, die diesen Ehrfurcht einflößenden Mann umgab.
Auch der Großmeister musste gespürt haben, wer vor ihm stand.
Wie sonst wäre es zu erklären gewesen, dass er Andrej von Anfang
an gegen die Widerstände nahezu aller anderen Ordensritter verteidigt und gefördert hatte? Nur mit seiner Hilfe allein war Andrej in
weniger als
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