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Der Gejagte

Der Gejagte

Titel: Der Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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ihn respektieren, ihn verstehen. Aber das bedeutete nicht
zwangsläufig, dass er ihn auch mochte.
    Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, ging Andrej an dem
Kapitän vorbei, öffnete die Tür und betrat den Kapitelsaal.
Es war ein Schritt in eine völlig andere Welt. Breite Bahnen aus
goldenem Licht schienen durch die schmalen Seitenfenster in die
Finsternis des weiten Saales. Es roch nach Staub, nach Waffenöl und
ganz leicht nach kaltem Weihrauch. Von der Decke hingen Dutzende
zerfetzter, dunkelfleckiger Banner herab. Fahnen, die der Orden in
seiner langen Geschichte zahlloser Schlachten und Eroberungen erbeutet hatte. Die letzten Zeugnisse von Siegen, die nur noch Archivare kannten. Von Schlachten im glühenden Sand der syrischen Wüste,
in den Bergen des Libanon und auf den Hochebenen des Jordantales.
Zeugen erbitterter Seegefechte und endloser Belagerungen, Ehrenbanner, Geschenke von Königen und Kaisern, deren Reiche längst
zerfallen waren und deren kalte Knochen in prunkvollen Sarkophagen in den Kathedralen Europas ebenso faulten und zerfielen wie die
derer, die sie selbst in den Tod geschickt hatten.
An den Wänden standen schartige und zerschlagene Rüstungen, deren einziger Schmuck Rost und das Blut, mit dem einst Geschichte
geschrieben wurde, waren.
Dort wurde auch das Schwert des Großmeisters Jean de Villiers
aufbewahrt, der bei der Verteidigung von Akkon schwer verwundet
worden war. Ihm war im Jahre 1291 die traurige Aufgabe zugefallen,
die Johanniter aus dem Heiligen Land ins Exil zu führen. Seit jenem
Tag war der Orden ununterbrochen auf dem Rückzug - langsam, widerwillig, aber unaufhaltsam. Malta war die letzte Bastion, die ihm
noch geblieben war, die letzte Festung des Ritterordens, und zugleich
auch das letzte Bollwerk des christlichen Abendlandes.
Andrej fragte sich, ob das möglicherweise der eigentliche Grund für
seine Anwesenheit auf Malta war. In gewissem Sinne waren diese
Burg und alle, die in ihr lebten, Teil einer anderen, längst untergegangenen Welt. So wie auch Abu Dun und er selbst.
Seine Schritte wurden langsamer. Schließlich blieb er stehen und
sah sich im Halbdunkel des weitläufigen Raumes um, als wäre er das
erste Mal dort. Wann immer Andrej diesen Saal betrat, ergriff ihn ein
Gefühl der Ehrfurcht, das er sich selbst nicht erklären konnte, denn
der Geist dieses Raumes widersprach allem, woran er glaubte. Vielleicht erinnerte dieser Saal ihn an sich selbst. Das Jetzt hatte keine
Bedeutung. Alles, was dort zählte, war das Gestern und die Vergangenheit - oder das, was die Erinnerung daraus machte. Im Herzen der
Ordensfestung schien die jahrhundertealte Geschichte lebendig und
gegenwärtig zu sein, fast, als wäre die Zeit nicht nur stehen geblieben, sondern liefe auf geheimnisvolle Weise rückwärts.
Manchmal, wenn er allein zwischen mottenzerfressenen Bannern
und rostigen Waffen stand, konnte er das Lärmen ferner Schlachten
hören, gellende Todesschreie, das Wiehern verwundeter Pferde und
die rauen Stimmen der Ordensoberen, die ihre Ritter in die Schlacht
führten, das Klirren von Stahl und den schrecklichen Laut, mit dem
Metall auf lebendiges Fleisch traf.
Aber da war noch mehr.
Macht…
»Welche Nachrichten bringt Ihr, Chevalier de Delãny?«
Andrej fuhr erschrocken zusammen, als er die Stimme des alten
Mannes hörte, der im Zwielicht nur als ein Schattenriss am Ende der
langen Tafel zu erkennen war, die die Mitte des Kapitelsaales einnahm. Er hatte es längst aufgegeben, dem Großmeister des Johanniterordens erklären zu wollen, dass er kein Chevalier war, sondern
einfach nur Andrej Delãny, und dass man seinen Namen für gewöhnlich auch nicht französisch aussprach. Welche Rolle spielte es schon?
Der Johanniter hatte sich so laut- und reglos verhalten, dass Andrej
seine Anwesenheit nicht bemerkt hatte, obwohl er doch wusste, dass
er dort auf ihn wartete. Eigentlich war er immer dort, als wäre er
selbst schon zu einem Teil der eingefrorenen Erinnerungen geworden, die diesen Raum ausfüllten.
Andrej fragte sich, wie lange ihn La Valette schon beobachtete und
was er in seinem Gesicht gelesen hatte. Er hatte keinen Beweis dafür,
ja, niemals auch nur einen Hinweis darauf erhalten - und trotzdem
war er beinahe sicher, dass La Valette sein Geheimnis kannte.
Er nickte respektvoll und trat näher an den Tisch mit seinen zahlreichen, hochlehnigen Eichenstühlen heran, die mit rissigem Leder
bezogen waren und das rote Tatzenkreuz des

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