Der Gejagte
»Kommt verdammt noch mal von diesem Schiff
herunter, Delãny, oder ich lasse Euch in Eisen legen!«, schrie er.
»Was glaubt Ihr, was Ihr da tut? Wenn Ihr wie ein Kapitän mit Eurem sinkenden Schiff untergehen wollt, dann habt Ihr Euch den falschen Moment dafür ausgesucht!«
Romegas’ Zorn überraschte Andrej. Nicht dass sein alter Widersacher jemals guter Laune gewesen wäre, soweit sich Andrej erinnern
konnte, aber er hatte fest erwartet, dass er nur aufgetaucht war, um
seinen Triumph in vollen Zügen zu genießen. Letzten Endes war es
Romegas gewesen, dessen Stimme den Ausschlag bei der Entscheidung gegeben hatte, ausgerechnet die St. Gabriel zu versenken, und
niemand, vermutlich nicht einmal der Großmeister, hatte auch nur
einen Herzschlag lang daran gezweifelt, wen diese Entscheidung
treffen sollte. Er hatte erreicht, was er wollte. Indem er Andrejs
Schiff auf den Grund der Hafenbucht schickte, hatte er in ihrem niemals offen erklärten Krieg den Sieg davongetragen. Wieso also war
er jetzt so zornig?
»Ist Euch eigentlich klar, dass Ihr mit Eurem pathetischen Getue
diesem Pack da am Ufer das Gefühl gebt, uns bereits besiegt zu haben?«, fuhr Romegas immer aufgebrachter fort, als Andrej nicht reagierte, sondern nur lässig dastand und ruhig zu ihm heruntersah.
»Und ist Euch ferner klar, Chevalier, dass Ihr allein die volle Verantwortung für diese Revolte tragt?«
Welche Revolte?, dachte Andrej. Alles, was er gesehen hatte, war
ein willkommener Anlass für die Aufseher, ihre Peitschen zu
schwingen. Er hielt es jedoch für klüger, jede entsprechende Bemerkung hinunterzuschlucken.
Stattdessen ließ er nur noch einmal gerade genug Zeit verstreichen,
um Romegas klar zu machen, dass es keineswegs sein befehlender
Ton war, dem er gehorchte. Dann trat er von der Reling zurück und
ging mit provozierend langsamen Bewegungen zum Deck hinunter.
Das Ruderboot legte mit einem scharrenden Laut an. Das Schiff lag
mittlerweile so tief im Wasser, dass er fast in das kleine Boot hinauf- und nicht hinuntersteigen musste. Selbstverständlich ließ Romegas es
sich nicht nehmen, stur an seinem Platz stehen zu bleiben, sodass
Andrej gezwungen war, mit einer wenig graziösen Bewegung an ihm
vorbeizubalancieren und sich einen freien Platz in dem kleinen Boot
zu suchen.
»Euer Verhalten wird noch ein Nachspiel haben, das verspreche ich
Euch, Delãny«, zischte Romegas. Einen Moment lang fragte sich
Andrej ernsthaft, warum er den Kerl nicht einfach über Bord warf.
Und für einen noch kürzeren Moment war er tatsächlich versucht, es
zu tun. Keiner der Männer an Bord würde versuchen, ihn zurückzuhalten. Aber dieser Gedanke war kindisch. Es war nicht nötig, dass er
sich die Hände an ihm schmutzig machte. Wenn Andrej im Laufe
seines langen Lebens etwas gelernt hatte, dann, dass es tatsächlich so
etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit gab. Irgendwann würde
Romegas bekommen, was ihm zustand.
Romegas drehte sich halb um und wartete darauf, dass Andrej Platz
nahm. Die Männer stießen das Boot mit Hilfe ihrer Riemen vom
Rumpf der sinkenden Galeere ab und versuchten zugleich, in dem
Gewirr der kreuz und quer gespannten Seile zu wenden, was ein immer heftigeres Schaukeln des kleinen Bootes zur Folge hatte. Romegas musste mühsam um sein Gleichgewicht kämpfen, war aber offensichtlich zu stolz, um sich zu setzen, bevor Andrej es getan hatte.
Nur dass der gar nicht daran dachte. Auch sein Gleichgewichtssinn
war weitaus besser entwickelt als der eines normalen Menschen -
und erst recht als der dieses Kurzbeinigen.
Normalerweise achtete Andrej streng darauf, die Menschen in seiner Umgebung nicht zu deutlich merken zu lassen, wie sehr er ihnen
körperlich überlegen war, doch in diesem Fall konnte er der Versuchung nicht widerstehen. Er stand lächelnd da und sah zu, wie sich
Romegas mit immer alberner wirkenden Verrenkungen zum Narren
machte, bis er es schließlich aufgab und sich mit einem wütenden
Laut auf die schmale Sitzbank im Bug des Ruderbootes fallen ließ.
Erst dann nahm auch Andrej gelassen Platz. In Romegas’ Augen
loderte etwas, das über reine Mordlust schon hinausging. Andrej
wurde klar, dass er möglicherweise einen Fehler gemacht hatte, aber
das war ihm gleichgültig. Er konnte sich Romegas kaum mehr zum
Feind machen, als es ohnehin schon der Fall war, und die Männer
ringsum amüsierten sich vermutlich im Stillen köstlich über die kleine Szene.
Ein goldenes Blitzen in den
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