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Der Gejagte

Der Gejagte

Titel: Der Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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der
Galeere schweifen ließ. Jeder Zoll des Schiffes war ihm so vertraut
wie sein eigener Körper. Jeder Fußbreit Reling, jedes Stück Holz,
jedes Tau und jede Handspanne Segeltuch waren getränkt mit Erinnerungen und es waren längst nicht nur die an überstandene Schrecken. Er hatte aufgehört zu zählen, in wie viele Schlachten er das
Schiff geführt, wie viele Siege die St. Gabriel unter seinem Kommando errungen, wie vielen Stürmen sie getrotzt hatte.
    Von ihrem reich verzierten Bug, über dem der zornige Erzengel
Gabriel seine goldenen Flügel spannte und mit herausfordernd vorgestrecktem Schwert den Feinden der Christenheit drohte, bis hin zur
Kajüte des Kapitäns mit ihren Bleiglasfenstern, die über die drückende Enge, die an Bord herrschte, hinwegtäuschen sollten, maß
das stolze Schiff mehr als hundertfünfzig Fuß. Wenn ihnen der Wind
günstig gesonnen war, halfen zwei schlanke Masten mit Lateinersegeln, die Ruderer zu entlasten.
    Meist hatten sie zu zweit entlang der Handelsrouten des Mittelmeeres gejagt, manchmal jedoch waren sie auch wie Löwen in Rudeln
aufgebrochen, zu viert oder noch mehr nebeneinander, und dann hatte es nichts und niemanden gegeben, der ihnen zu widerstehen vermochte, wenn Hunderte von Riemen das Wasser zu schäumender
Gischt aufpeitschten und die Trommeln tief im Bauch des Schiffes in
immer schnellerem Takt zum Spurt antrieben.
    Über dreihundert Mann hatten sich seinem Kommando gefügt,
wenn das Schiff voll besetzt war. Segelmacher, Zimmerleute, Lotsen,
spanische Söldner, die als Musketenschützen dienten, der genuesische Rudergänger und natürlich der Barbier, der nach der Schlacht
sein Geschäft als Wundarzt versah und mit seinem scharfen Messer
je nach Bedarf nicht nur Haare, sondern auch schon einmal Gliedmaßen abtrennte, in die sich der Wundbrand eingenistet hatte. Dann gab
es noch den Geschützmeister, der mit seinen Männern das Kommando auf dem Vorderkastell mit den beiden schweren Bronzekanonen
geführt hatte, und siebzig Soldaten, zusammengewürfelt aus allen
Ländern der Christenheit und angeführt von Novizen der verschiedenen Ordensprovinzen, die ihr Pflichtjahr auf See abzuleisten hatten.
So viele junge Männer, wie eine kleine Stadt aufzubieten vermochte,
waren auf diesen Planken zusammengepfercht gewesen, hatten zusammen gelitten und gelacht, gemeinsam ihre Toten beweint und
ihre Triumphe gefeiert. Bis ans Ende seiner Tage würde keiner von
ihnen den Namen der St. Gabriel vergessen und dasselbe galt auch
für ihn.
    Ein trauriges Lächeln machte sich auf Andrejs Lippen breit, ohne
dass er sich dessen bewusst wurde. Er fragte sich, was all diese Männer wohl sagen würden, wenn sie gewusst hätten, wie groß die Ähnlichkeit zwischen diesem Schiff und seinem Kapitän wirklich war.
Genau wie Andrej war die St. Gabriel ein Jäger, der ruhelos durch
die Einsamkeit der Ozeane pflügte und stets auf der Suche nach Beute war; ein Vampyr der Meere, der aus dem Verborgenen zuschlug
und seine Opfer ihrer Lebenskraft beraubte.
    Aus dem Rumpf des Schiffes drang ein weiterer einzelner Hammerschlag herauf und in das Echo dieses Lautes hinein sagte eine
Stimme hinter ihm: »Herr, wir müssen von Bord.«
    Andrej schüttelte die Erinnerungen mühsam ab, löste die Hände
von der Reling und drehte sich zu dem weißhaarigen Seemann um,
der zwei Schritte unter ihm stand und mit in den Nacken gelegtem
Kopf zu ihm heraufblinzelte. Er musste die Augen zu schmalen
Schlitzen zusammenpressen, um nicht von der Sonne geblendet zu
werden, die in Andrejs Rücken stand. Seine Stimme klang rau; die
Stimmbänder von Jahrzehnten zerstört, in denen er gegen das Brüllen
des Windes und das Dröhnen der Trommeln hatte anschreien müssen. Dennoch glaubte Andrej, etwas darin zu vernehmen, was er
noch nie zuvor gehört hatte.
    »Ja«, sagte er knapp. Er straffte die Schultern, blinzelte noch einmal, und die Bilder der Vergangenheit fielen endgültig von ihm ab.
Er stellte sich widerwillig dem Anblick, den die St. Gabriel nun bot.
Die Mannschaft hatte das Schiff zu seiner letzten Fahrt noch einmal
geschrubbt und herausgeputzt wie eine Braut am Abend ihrer Hochzeit, aber es war eine verstümmelte Braut, der man fast alles genommen hatte, was sie begehrenswert machte. Die Masten waren entfernt
worden, Ruder und Ruderkästen abgebaut; auch die beiden schweren
Kanonen, die golden schimmernden Todesboten, waren verschwunden - alles, was nicht niet- und nagelfest war,

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