Der Gejagte
Sultan verfüge über eine Gruppe besonders gut ausgebildeter Attentäter. Männer,
die von Kindesbeinen an darauf trainiert werden, einen einzigen Auftrag auszuführen: Mord. Es heißt, sie könnten sich lautlos und
schnell wie die Schatten bewegen und sich in einen Zustand versetzen, in dem sie weder Schmerz noch Erschöpfung spüren.«
»Sicher«, antwortete Starkey spöttisch. »Und einmal im Monat
verwandeln sie sich in Wölfe und heulen den Mond an, nicht wahr?«
»Ihr solltet mit Eurem Spott vielleicht etwas weniger großzügig
umgehen, lieber Freund«, sagte La Valette. »Was wir gesehen haben,
lässt sich nicht mehr mit Eurer geliebten Logik erklären.« Er deutete
fast anklagend auf die Stelle, an der der Vampyr gelegen hatte. »Was
immer diese Kreatur war - sie war kein Mensch.« Er wandte sich
wieder an Andrej. »Ich will ehrlich zu Euch sein, Chevalier. Ich war
nicht sicher, ob in diesem Brief nicht zumindest teilweise die Wahrheit stand. Nicht, dass ich Euch tatsächlich für einen Dämon gehalten
hätte…«
»… aber sehr wohl für einen gedungenen Mörder, den der Sultan
schon vor Jahren hierher geschickt hat, um Euer Vertrauen zu erschleichen«, führte Andrej den Satz zu Ende. Er war nicht verletzt
oder gekränkt. Er an La Valettes Stelle wäre womöglich zu demselben Schluss gelangt.
»Aber wenn es so wäre, warum sollte er uns dann einen Brief schicken, um uns vor Euch zu warnen?«, wollte Starkey wissen.
»Um Zwietracht zu säen, Unruhe und Furcht«, antwortete Andrej.
»Er ist wohl nicht davon ausgegangen, dass Ihr diesen Brief für Euch
behaltet. Und selbst wenn, hätte man ihn zweifellos nach Eurem Tod
gefunden, und der Anschlag hätte Erfolg gehabt. Ihr solltet vorsichtig
sein, solange der Meuchelmörder nicht gefasst ist.«
Starkey setzte zu einer Antwort an, doch in diesem Moment wurde
die Tür aufgestoßen und ein Soldat stolperte herein.
»Was fällt dir ein?«, fuhr Starkey ihn an. »Ich habe befohlen, dass
man uns allein…«
»Sie kommen!«, stieß der junge Ritter keuchend hervor. Er musste
in der schweren Rüstung so schnell gerannt sein, wie er nur konnte,
denn sein Gesicht glänzte vor Schweiß, und er zitterte am ganzen
Leib. »Die türkische Flotte! Das ganze Meer ist voller Schiffe!«
Die Alarmglocke war verstummt. Im Osten begann sich der Horizont über dem Meer zu verfärben, als Andrej zusammen mit Starkey
und dem Großmeister auf dem höchsten Turm der Festung ankam.
Das vielleicht dreißig Schritte messende Rund war voller Männer,
die sich aufgeregt um einen einzelnen Ritter drängten, der mit einem
Fernrohr den Horizont absuchte. Andrej registrierte mit einem Gefühl leichter Überraschung, dass er den Mann kannte - es war Pepe di
Ruvu, sein ehemaliger Geschützmeister von der St. Gabriel. Romegas’ Abneigung gegen die erfolgreichste Galeere, über die die Johanniterflotte verfügt hatte, hielt ihn offensichtlich nicht davon ab,
Männer aus ihrer ehemaligen Besatzung in seinen Dienst zu nehmen.
Die Soldaten machten Andrej und seinen beiden hochrangigen Begleitern ehrfürchtig Platz, sodass sie an die Seite des ehemaligen
Seemannes treten konnten.
»Und?«, fragte Andrej.
Der kleine Neapolitaner setzte das Rohr ab und drehte sich um. Ein
überraschter, aber auch ehrlich erfreuter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht, als er Andrej erkannte.
Er war ein Mann, der es mit den Ordensregeln nicht immer genau
genommen hatte, dem Andrej aber jederzeit blind sein Leben anvertraut hätte. Mit seinem sorgfältig gestutzten Spitzbart, dem schmalen
Gesicht und den schelmisch funkelnden Augen war es ihm stets
leicht gefallen, bei Frauen Eindruck zu machen. Und die Tatsache,
dass er als Johanniter geschworen hatte, sich den fleischlichen Gelüsten zu enthalten und das Leben eines Mönchs zu führen, schien ihn
für die eine oder andere Frau eher noch interessanter gemacht zu
haben. Andrej wusste, wie oft sein Geschützmeister gegen die Gelübde verstoßen hatte, wenn er in fremden Häfen um Landgang bat,
aber Pepe war nicht nur ein exzellenter Kanonier, sondern auch ein
Mann, der bei den einfachen Soldaten an Bord überaus beliebt gewesen war, weil ihm die Arroganz und Selbstherrlichkeit fehlten, die
die meisten anderen Ordensritter auszeichneten. Seine Männer wären
für ihn jederzeit durch die Hölle gegangen, und für den Kommandanten eines Kriegsschiffes war ein solcher Offizier hundertmal mehr
wert als ein fanatischer Ritter, der
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