Der Gejagte
vielleicht die Bibel auswendig
aufsagen konnte, den seine Männer aber hassten.
»Andrej?« Pepe schüttelte mit einem dünnen Lächeln den Kopf.
»Was frage ich? Wenn es irgendwo Ärger gibt, dann bist du ja immer
als Erster zur Stelle.« Er reichte Andrej das Fernrohr. »Ostnordost.
Noch kann man sie sehen, aber du solltest dich beeilen. Sobald der
erste Morgennebel aufzieht, sind sie verschwunden.«
Offensichtlich hatte er die beiden hochrangigen Ritter, die in Andrejs Begleitung gekommen waren, gar nicht bemerkt. Andrej machte
ihn nicht auf sein Versäumnis aufmerksam, sondern hielt das Fernrohr in die bezeichnete Richtung und stellte es scharf. Es war noch zu
dunkel, um die Schiffe selbst erkennen zu können. Doch er sah Lichter. Hunderte und Aberhunderte von Lichtern, als wären die Sterne
vom Himmel gestürzt und trieben nun mit der Strömung auf die Küste Maltas zu. Positionslichter, dachte er, verräterisch und gefährlich,
aber auch unumgänglich, um einen größeren Flottenverband bei
Nacht zu manövrieren und Kollisionen zu vermeiden. Aber es waren
so viele.
»Wie weit sind sie noch entfernt?«
»Schwer zu sagen, bei der Dunkelheit«, antwortete Pepe. Er dachte
nach und hob dann die Schultern. »Vielleicht fünfzehn Meilen, vielleicht etwas weniger.«
»So nahe?«, fragte Starkey, der unmittelbar hinter Andrej stand, erschrocken. »Das würde ja heißen, sie sind nahe genug…«
»… um ohne Probleme noch vor der Mittagsstunde im Hafen vor
Anker zu gehen - oder auch mit der Beschießung des Forts beginnen
zu können, sollten wir ihnen das nicht gestatten«, fiel ihm Pepe ins
Wort, brach dann aber mit einem erschrockenen Keuchen ab und riss
die Augen auf, als er sich umdrehte und sah, wen er da unterbrochen
hatte. Als er den weißhaarigen Mann neben Starkey erkannte, wurde
er noch blasser.
Andrej reichte das Rohr an Starkey weiter und schüttelte beruhigend den Kopf. »So schnell wird es nicht dazu kommen«, sagte er.
»Der Sultan wird auf jeden Fall zuerst einmal einen Unterhändler
schicken, um unsere Kapitulation zu fordern. Ich an seiner Stelle
würde mir einen sicheren Ankerplatz außerhalb der Reichweite unserer Geschütze suchen, um die Truppen und meine schweren Kanonen
an Land zu bringen.«
Pepe zog es vor, in Anwesenheit der beiden hohen Würdenträger
des Ordens seine Meinung für sich zu behalten. La Valette starrte nur
mit versteinerter Miene dorthin, wo die Nacht die näher kommende
türkische Flotte verbarg.
»Wir sollten den Hafen evakuieren«, fuhr Andrej nach einer Weile
fort. »Die meisten Bewohner sind schon fort, aber nicht alle. Sie
werden zuerst St. Elmo unter Feuer nehmen.« Er wartete vergebens
auf eine Antwort und wandte sich dann direkt an La Valette. »Wenn
Ihr erlaubt, kümmere ich mich um die Evakuierung.«
Der Großmeister schien seine Worte gar nicht gehört zu haben. Er
streckte fordernd die Hand aus, und Starkey gab ihm das Fernrohr.
Ruhig richtete er das Glas auf den Horizont und blickte eine geraume
Weile schweigend hindurch.
»Euer Kanonier hat Recht, Chevalier Delãny«, sagte er, ohne das
Fernrohr abzusetzen, in beiläufigem Tonfall. »Sie sind noch gut
fünfzehn Meilen entfernt, vielleicht sogar mehr, und die Strömung ist
gegen sie. Uns bleibt noch Zeit genug für das Morgengebet. Lasst
den Menschen in ihren Häusern unten in der Stadt noch den Rest
dieser Nacht Ruhe. Es ist vielleicht das letzte Mal, dass sie in Frieden
aufwachen können.«
Andrej hütete sich, seine Bitte zu wiederholen. Vielleicht hätte er es
getan, wären La Valette und er allein gewesen, aber er wusste, dass
der Großmeister in Anwesenheit so vieler anderer niemals auch nur
die geringste Auflehnung gegen seine Autorität durchgehen lassen
würde. Er hatte seine Bitte vorgebracht und La Valette hatte geantwortet, indem er sie ignorierte. Nichts, was er jetzt noch sagte, würde
die Lage verändern.
»Ruft alle Kommandanten und Offiziere zusammen«, sagte La Valette, nachdem er das Rohr abgesetzt und an seinen eigentlichen Besitzer zurückgegeben hatte. »Mir scheint, der Tanz kann beginnen.«
Zwei Männer, die in seiner unmittelbaren Nähe gestanden hatten,
eilten davon, um den Befehl des Großmeisters auszuführen. Auch
Andrej wollte sich umdrehen und gehen. Es gab für ihn dort oben
nichts mehr zu tun, und ihm rannte die Zeit davon. Abu Dun war auf
Starkeys Anraten hin unten in La Valettes Gemach zurückgeblieben ein kluger Entschluss, wie Andrej im
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