Der gekreuzigte Teufel
auf den Hauptweg zurück und lief den Berg hinab auf die Straße nach Nairobi zu.
Hatte das Schicksal sie dazu verdammt, für immer auf dornenbedeckten Wegen zu gehen? War sie dazu verdammt, für immer schwere Lasten mit sich zu tragen? Diese und viele andere Fragen stellte sich Wariinga, als sie sich auf den Weg zum Bezirk 58machte. Selbstmord zu begehen war also gar nicht so leicht? Was konnte denn ein Mensch auf dieser Welt noch sein Eigen nennen, wenn er nicht einmal seinem Leben, das ihm eine zu große Last geworden war, ein Ende zu setzen in der Lage war? Diese Gedanken beschäftigten sie noch, als sie zum Bahnübergang kam.
Und dann fiel Wariinga ein, was sie und ihre Kusinen damals gesehen hatten — der Mann, den man von einem Zug völlig zerstückelt auf den Geleisen gefunden hatte. Sie erinnerte sich daran, daß die Identität dieser Person völlig ausgelöscht worden war. Sein Name war ein für alle Mal von der Erde verschwunden, und es war, als sei er nie geboren worden. Wariinga dachte nun, daß ein solcher Tod wohl das beste sei — niemand würde jemals erfahren, wer sie gewesen war. An jenem Abend beschloß sie, was auch immer der nächste Tag bringen würde, ihren Körper dem Zug zum Opfer zu bringen.
Sie würde genau an diesem Bahnübergang auf einen Zug warten, sie würde sich vor die eisernen Räder werfen, und sie würde vom Angesicht dieser Erde verschwinden, als wäre sie nie geboren worden oder niemals ein Gast auf dieser Erde gewesen. Zum ersten Mal konnte Wariinga wieder beten. Sie betete den Rosenkranz, und aus tiefstem Herzen rief sie die Jungfrau Maria an:
Heilige Jungfrau Maria, erhöre meine Bitte,
Zeichne meine Seele
Mit den Wunden Jesu.
Amen.
Zum ersten Mal, seit der Aussatz des Reichen Alten Mannes aus Ngorika sie angesteckt hatte, fühlte Wariinga eine Art Frieden in ihr Herz zurückkehren. Sie versuchte sogar, sich einen Vers aus einem Kirchenlied vorzusagen — sie hatte es immer gesungen, wenn sie glücklich gewesen war, nun tat sie es in ihrem ganzen Kummer.
Frieden, Frieden meinem Herzen,
Zur Zeit Deiner Auferstehung
Gib meinem Herzen Frieden;
Frieden, Frieden meinem Herzen
Im Namen Deiner Auferstehung
Gib meinem Herzen Frieden.
Wariinga hatte weder die Auferstehung des Leibes noch der Seele im Sinn. Ihr einziger Wunsch war, daß ihr Name vom Angesicht der Erde ausgelöscht, daß sie verschwinden würde, als wäre sie niemals geboren worden. Ihr einziges Gebet war, daß der Engel des Todes sie holen und ihren Namen aus dem Buch des Lebens tilgen möge:
Du, der du die Hungrigen nährst,
der du die Müden erquickst,
der du die Durstigen labst,
Geleite mich über den Strom des Todes.
Der nächste Tag war ein Sonntag. Die Tante fragte Wariinga, ob sie die Frühmesse besuchen wolle. Wariinga verneinte. Ihre Tante ging mit allen Kindern in die Kirche zum Heiligen Rosenkranz. Wariinga blieb zu Hause, um zu kochen. Aber Wariinga kochte überhaupt nichts. Sie nahm nur ein Bad und machte ihr Haar so hübsch zurecht, als habe sie eine lange und weite Reise vor sich.
Gegen halb elf ging Wariinga zum Bahnübergang. Sie schaute sich nach allen Seiten um und sah, daß weit und breit niemand war. Aber einige Minuten später kam der Nachtwächter von der Nakuru High School auf seinem Weg zum Bezirk 58 vorbei. Ihre Blicke begegneten sich. Der Nachtwächter schien stehenbleiben zu wollen, um sich mit Wariinga zu unterhalten. Aber dann besann er sich doch eines anderen und ging über die Geleise hinüber zur anderen Seite. Wariinga dachte leise spottend: dieses Mal wirst du mich nicht zurückhalten … jetzt kannst du gar nichts mehr tun, um mich von meinem Vorhaben abzubringen …
Und dann kam plötzlich der Zug nach Nairobi. Wariinga war, als sänge der Zug das Lied, das sie als Kind schon immer gehört hatte, wenn er vorüberfuhr:
Auf dem Weg nach Uganda
Auf dem Weg nach Uganda
Auf dem Weg nach Uganda
Und ihr Herz schlug im Rhythmus des Zuges:
Auf dem Weg nach Uganda
Auf dem Weg nach Uganda
Auf dem Weg nach Uganda
Und der Zug kam näher, ließ Dampf ab, stieß seinen nach Blut und Tod riechenden Atem aus und sagte allen Menschen in Nakuru Lebewohl.
Auf dem Weg
Auf dem Weg
Auf dem Weg
Wariinga sprang aufs Bahngleis. Sie schloß die Augen. Sie begann zu zählen … eins … zwei … drei …
Weg
Weg
Weg
… vier … fünf … Jungfrau Maria erbarme dich meiner …
Der Zug kommt immer näher heran. Sein Dröhnen erschüttert die Gleise … Sein
Weitere Kostenlose Bücher