Der Geliebte
dorthin, wo ich Michel gesehen hatte. Er stand jetzt ein paar Meter weiter im Flur, zusammen mit Bruno, der mir den Rücken zugewandt hatte.
Ich zögerte.
Das Problem löste sich von selbst. Bruno sah zu mir hinüber, wechselte einen raschen Blick des Einverständnisses mit Michel und ging dann an mir vorbei zur Bar. Im Vorübergehen lächelte er mich an. Bruno wusste es. Und wenn Bruno …
Auch auf Michels Lippen trat ein Lächeln, sein Blick glitt über meinen Körper. »Gut siehst du aus.«
Auf einen Schlag hatte ich alles vergessen, ich wollte ihn nur noch festhalten, mit den Händen über seinen Bauch streichen, mich an ihn pressen.
Aber es waren zu viele Leute hier. In sicherem Abstand blieb ich stehen.
»Wo warst du?«, fragte ich rasch. Ich warf einen kurzen Blick Richtung Wohnzimmer. Niemand, den ich gekannt hätte.
»Ich arbeite jetzt bei einem Paar aus Belgien. Dachbau. Ich habe dich vermisst.«
Er trug ein zu großes Baumwollhemd, eine pastellgrüne Dreiviertelhose und ein Paar Slipper. Es war das erste Mal, dass ich ihn in sauberen Klamotten sah. Sie standen ihm umwerfend gut. Aber vermutlich hätte er auch einen Taucheranzug tragen können, ohne dass das an den chemischen Reaktionen, die jetzt in meinem Körper abliefen, etwas geändert hätte.
»Ich dich auch.« Mit aller Macht unterdrückte ich den Impuls, ihn auf der Stelle mit nach draußen zu zerren. Jemand rempelte mich an und entschuldigte sich auf Englisch.
»Sonst komm doch mal bei mir vorbei«, sagte er. Seine Blicke scannten den Raum. Genau wie ich war er auf der Hut.
»Ich weiß ja gar nicht, wo du wohnst.«
Die Band fing wieder an zu spielen. Extrem laut, sodass ich einen Vorwand hatte, näher an ihn heranzurücken. Ich tat zwei kleine Schritte auf ihn zu, und er beugte sich zu mir vor, um mir die detaillierteste Wegbeschreibung ins Ohr zu flüstern, die ich je bekommen hatte, falls es nicht bloß die einzige war, die sich auf Anhieb in meinem Langzeitgedächtnis festsetzen sollte. Bis ans Ende meiner Tage würde ich den Weg in die Rue Charles de Gaulle behalten.
»Vielleicht schaue ich tatsächlich mal vorbei«, sagte ich.
»Mach das. Ich hab dich vermisst.« Unablässig behielt er die anderen Gäste im Auge, die auf dem Weg zur Toilette vom Wohnzimmer in den Flur kamen oder gerade wieder zurückgingen.
»Du bist doch Simone, oder?«
Erschrocken drehte ich mich um. Hinter mir stand ein etwa vierzig Jahre alter Mann, dessen Kopfhaar sich bereits lichtete. Er trug ein knallrotes Hemd mit einem weißen T-Shirt darunter.
»So heiße ich«, sagte ich nicht besonders freundlich.
»Wusst ich’s doch.« Er hielt mir die Hand hin. Fleischig und behaart, eine teure Armbanduhr am Gelenk. Hellblaue Augen unter buschigen Brauen. »Ich bin Theo, meine Frau Betty und ich sind vor zwei Jahren hierher gezogen.«
Theo erzählte auch noch, wohin genau sie gezogen waren, aber ich vergaß es auf Anhieb wieder. Französische Ortsnamen mit mehr als zwei Silben konnte ich mir nicht merken, sie blieben einfach nicht hängen.
»Wir haben auch zwei Kinder, genau wie ihr«, fuhr er fort. »Und wir haben das Haus auch selbst saniert, mit Hilfe von Peter, meine ich natürlich. Ich hatte erst selbst angefangen, aber dann wuchs es mir über den Kopf. Peter hat erzählt, dass es bei euch gut vorangeht, ihr habt offenbar Glück. Bei diesen alten Häusern kann immer alles Mögliche dazwischenkommen. Es klappt nie nach Plan.«
»Das hab ich inzwischen auch schon öfter gehört.«
Als ich mich wieder nach Michel umsah, war er verschwunden.
»Ich habe mich gerade ein bisschen mit deinem Mann unterhalten. Meine Frau hat euch eingeladen, nächste Woche mal zu uns zum Essen zu kommen. Wir vermieten auch chambres d’hôtes , vielleicht können wir euch ein paar Gäste abgeben. Wenn die Saison anfängt, müssen wir jedes Jahr wieder Leuten absagen. Du weißt schon, solche, die auf den letzten Drücker noch was buchen wollen. Vielleicht könnten wir die ja zu euch schicken. Es wäre sowieso gut, wenn man hier ein bisschen mehr zusammenarbeiten würde.«
»Gute Idee«, sagte ich geistesabwesend.
Eric kam auf uns zu. An seinem Blick und seiner ganzen Haltung sah ich, dass er jetzt schon zu viel getrunken hatte. Unwillkürlich schaute ich auf mein eigenes Glas. Ich hatte lediglich daran genippt.
Besitzergreifend legte Eric den Arm um mich. »Du warst plötzlich weg, wo hast du denn gesteckt? Theo, du hast Simone also schon gefunden, wie ich sehe.«
Theo
Weitere Kostenlose Bücher