Der gemietete Mann: Roman (German Edition)
rein.«
Ich riss mir den Pullover hoch, ließ mich auf die zerschlissene Couch in Emils Zelle fallen und streckte die Hände nach meinem Kind aus. Emil reichte mir meine Tochter und sah mich an. Er wirkte wie ein Sträfling in dieser spartanischen Garderobe. Ein Gefangener, der einfach wartet, bis wieder ein Tag vorüber ist. Auf dem schmucklosen Holztisch lagen Paulinchens Babyutensilien, Cremes, Windeln und eine Rassel. Daneben eine Cola-Dose und ein eselsohriger englischer Thriller. Stillleben eines stillen Knaben.
»Mensch, Emil! Geh doch mal vor die Tür!«
»Ich will lieber bei dir sein!«
»Aber du musst dich doch langweilen!«
»Vielleicht brauchst du mich.«
»Nicht in den nächsten drei Stunden.«
»Iss sswer?«
»Sauschwer.«
»Kann ich was für dich tun?«
Junge, dachte ich. Was bist du für ein Goldstück.
»Du kannst mit Paulinchen an die frische Luft gehen. Das kannst du für mich tun.«
»O.K., Mam.«
Emil rappelte sich auf, zog das Baby an, nahm seinen Walkman mit den Spice Girls, warf mir noch einen flüchtigen Blick zu und fuhr mit dem buntgestreiften Kinderwagen davon.
Ich schaute ihm lange nach. Dann ging ich wieder in die kleine, enge Garderobe zurück, um flimmernde Köpfe zu schauen.
Was hatte Senta gesagt? Wer auf kalte Berge klettern will, muss sich nicht wundern, wenn er oben friert.
Nachdem Kim uns all ihre Videos gezeigt hatte, konnte ich mich an kein einziges Gesicht mehr erinnern.
»Na, macht nichts, du wirst dich noch dran gewöhnen«, sagte Oda-Gesine, während sie ihr schätzungsweise zwölftes »Wört-Flört-Tört« auspackte. »Holt die ersten Knaben doch einfach rein!«
Sofort sprangen mehrere von denen, die seit Stunden in meiner Garderobe gesessen und mit mir auf das Video gestarrt hatten, auf und kamen kurz darauf mit drei jungen Kerls zurück. Keiner kam mir im Mindesten bekannt vor.
»Setzt euch«, sagte Oda-Gesine Malzahn streng.
Die drei Kerls, von denen zwei eben noch dreist gegrinst hatten, sanken auf die ihnen zugewiesenen Holzstühle. Einer rieb sich die hektischen Flecken von der Backe.
»Also, was ich jetzt sage, sage ich nur einmal«, schnauzte Oda-Gesine mit vollem Mund. »Ihr seid heute Abend im Fernsehen, und euch schauen zwölf Millionen Menschen zu. Mir ist völlig egal, ob euer Chef zuschaut oder eure Mama oder ob ihr später mit eurem Hausmeister Ärger kriegt oder mit eurem Nachhilfelehrer. Ich will, dass ihr witzig seid, schlagfertig, frech und trendy. Keiner von euch erscheint in einem verdreckten Wollpullover oder in so’m Leibchen, wie ihr jetzt anhabt. Der Frank kleidet euch nachher ein. Ihr zieht an, was euch gesagt wird. Trendy Klamotten, junge, witzige Schiene. Wer nicht will, fliegt raus. Jetzt proben wir hier mit der Karla ein Interview. Das Interview dauert mit jedem eine Minute. Also quatscht nicht lange rum, und grüßt nicht eure Mutti, und sagt nicht äh, und kratzt euch nicht an der Backe. Merkt euch jetzt, was ich sage. Ich sag’s seit dreißig Jahren zu jeder Nase, die hier sitzt, und wer’s nicht schnallt, fliegt raus.«
Die Kerls hockten verschüchtert da. Keiner wagte sich mehr zu rühren. Der Linke verschluckte unauffällig seinen Kaugummi, der Backe-Kratzer ließ die Hand sinken. Dabei waren sie in der Disco noch so gut drauf gewesen!
»Ich heiße, ich komme aus, ich mache«, schnarrte Oda-Gesine. »Könnt ihr das in der Reihenfolge sagen, ja?! Kein Alter, kein Nachname, kein überflüssiges Geschwätz. Also los.« Sie wandte sich an den Ersten.
»Also, ich heiße, äh, wie schon gesagt, Marc, Marc Andreas Lützel, um genau zu sein, ich bin vierundzwanzig Jahre alt und … äh … was noch?«
»Kein Alter, kein Nachname, kein äh!«, schrie Oda-Gesine gereizt. Sie stopfte sich sofort noch einen Nougatriegel in den Mund.
Die Nougatriegel lagen überall. Auf den Tischen, in den Schränken, in der Maske, in der Garderobe, im Bügelzimmer, auf den Ablagen der Gästebetreuer, im Studio, in der Requisite und in der Regie. Selbst auf der Toilette lagen die Dinger rum. Auch die Kandidaten wurden angehalten, sich tagsüber damit vollzustopfen. Und die Mitarbeiter sowieso. Pausenlos wurde »Wört-Flört-Tört« gemampft. Ich hatte mir geschworen, niemals ein einziges davon zu essen. Erstens wegen der Figur. Und zweitens, weil ich Herrn Bönninghausen nicht leiden konnte.
Marc war völlig verschüchtert. »In der Disco habt ihr gesagt, dass es hier voll easy ist«, maulte er.
»Ist alles im grünen Bereich, Marc«,
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