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Der gemietete Mann: Roman (German Edition)

Der gemietete Mann: Roman (German Edition)

Titel: Der gemietete Mann: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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ausrechnen?«
    »Voll der geistlose Scheiß, ey«, sagte Karl verächtlich. »Da hab ich keinen Bock drauf.«
    »Tja, Kind«, sagte ich versonnen, während ich ihm mit mütterlichem Verständnis über die weichen Borstenhaare strich, »man muss auch manchmal Sachen machen, auf die man keinen Bock hat. Auch wenn es voll der geistlose Scheiß ist.«
    Als ich das nächste Mal im SENDER ankam, lagen auf meinem Tisch zwei Stapel Zuschauerbriefe.
    »Sie sind nicht alle superfreundlich«, sagte Lutz, unser pfiffiger Sekretär mit der Baskenmütze, der ständig im Internet chattete und mit allen Zuschauern locker-flockigen Kontakt hielt. »Aber lies sie mal. Dann weißt du ungefähr, was wir für ein Publikum haben.«
    Er überreichte mir einen Riesenpacken mit Briefen.
    »Die hier«, sagte er und zeigte auf einen zusammengebundenen Haufen, »das sind die Autogrammwünsche. Alle nett und harmlos. Aber die hier« – das war ein anderer Packen, nicht ganz so groß, aber bestimmt hundert Zuschriften –, »das sind kritische Stimmen. Führ sie dir halt zu Gemüte. Und nimm sie bloß nicht persönlich. Das sind ganz oft Leute, die einen an der Latte haben. Das merk ich ja, wenn ich mit denen im Internet chatte.«
    »Klar«, murmelte ich tapfer. Mir zitterten die Finger. Ich wollte keine negativen Zuschriften lesen. Es war ein ebenso widerliches Gefühl wie damals in der Schule, wenn ich eine verhauene Arbeit wiederkriegte. So musste sich Karl fühlen, wenn Frau Langewellpott-Biermann ihm seine Englischarbeit auf den Tisch warf.
    »Nimm’s bloß nicht tragisch«, sagte Lutz noch im Weggehen. »Leute, die an das Fernsehen schreiben, haben sowieso ’ne Macke!«
    »Ich werd’s schon überleben«, murmelte ich hinter ihm her. Doch ich war mir da nicht so sicher.
    Stillende Mütter sollten sich sowieso keinem überflüssigen seelischen Stress ausliefern. Stand auch in der »Frohen Mutter«. Aber ich wollte mich nicht in Watte packen. Los. Umschlag auf.
    Der erste Brief stammte von einer Frau namens Martina Kantor. Das Blatt war aus einem Rechenheft herausgerissen. »Wie können Sie zulassen«, stand da ohne Anrede, »dass eine Kotzfrau wie Karla Stein diese schöne Sendung so versaut? Ich habe ›Wört-Flört‹ mit Sicherheit zum letzten Mal gesehen. Denn Muttertiere ohne Hirn und Emution sind schon oft genug in ihrem Scheißsender zu sehen. Selbst die Volksmusik wird jetzt von so einem Muttertier muderiert. Eine Mutter mit Kindern gehört an den Herd, aber nicht ins Fernsehen. M. f. G.«
    Ich schluckte. Das tat weh. Wohin sollte ich diesen Brief jetzt stecken? Hatte mich jemand beim Lesen beobachtet? Ich schämte mich so! Es war schrecklich erniedrigend, so einen Brief lesen zu müssen! Diese Frau ist eine Proletin, versuchte ich mich zu trösten. Die kann noch nicht mal richtig schreiben. Bestimmt sitzt sie allein zu Haus und hat Langeweile, und keiner hat sie lieb. Sie ist bestimmt selbst ein Muttertier ohne Hirn und Emution. Und sie steht am Herd. Ich versuchte mir Martina Kantor vorzustellen. Wie sie in ihrer Zweizimmerbude hockte und sich die Nägel lila lackierte. Und dabei rauchte. Und ’ne Jogginghose anhatte. Oder Leggins. Mit hochhackigen Schuhen drunter. Los, Karla, stell sie dir vor. Die kann nicht bis drei zählen. Die ist vulgär. Ihr Kind ist von der Schule geflogen. Ihr Kerl hat sie verlassen. Jetzt hat ihr auch noch der Vermieter gekündigt. Ihre Halbtagsstelle als Lagerarbeiterin bei einem Großmarkt hat sie sausen lassen. Die ist der lebende Frust, die Frau. Der lebende Hass. Braune Zähne hat die vom Rauchen. O.K. Inzwischen tat Martina Kantor mir ganz leid. Fast hätte ich ihr ein paar freundliche Zeilen geschrieben. Ich steckte den Brief zuunterst in die Plastikhülle und fühlte, dass ich Mut hatte, das nächste Pamphlet in Angriff zu nehmen.
    Es war eine Postkarte. Darauf war mein Gesicht geklebt, zur Hälfte durchgeschnitten, mein eines Auge war mit schwarzem Filzstift verunstaltet, und aus meinem Mund tropfte schwarze Tinte, »ES REICHT!« hatte ein anonym bleiben wollender Mensch in Grün daneben geschrieben. »Wir wollen einen fähigen Moderator, und zwar einen Mann! Und wenn schon eine Frau, dann keine so alte! Wir wollen wieder einen Moderator mit Akzent! Frau Stein, wickeln Sie Ihren vierten Nachwuchs! Sie sehen Scheiße aus!«
    O.K., dachte ich, ich bin stark, den steck ich auch noch weg, dafür, dass ich keinen Akzent habe, kann ich nichts, ich versteh den anonymen Gesichtzerschneider, auch ich

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