Der gemietete Mann: Roman (German Edition)
wirkte. So glatt. So ebenmäßig.
Ich ging voraus auf die Brücke. Es roch nach Holz. Ich tastete vorsichtig nach dem Geländer. Es fühlte sich rauh und glatt an. Und warm. Trotz der Kälte.
»Kannst du was sehen?«
»Ja. Schön. Wie alt ist die Brücke?«
»Sehr alt. Viele hundert Jahre. Einmal hat sie gebrannt. Aber sie wurde wieder aufgebaut. Kapellbrücke heißt sie.«
»Warum zeigst du mir das alles?«
»Weil ein junger Mann aus dem Ausland so was einfach gesehen haben muss.«
Wir schritten einmal ganz darüber. Bis zum Wasserturm. Ach, ich liebte diese Brücke. Früher, in meinem anderen Leben, war ich hier schon öfter gewesen. Bei Tag und bei Nacht. Und auch da war ich nicht allein gewesen. Aber das hier, das war etwas ganz anderes.
Du milchjunger Knabe, wie schaust du mich an? Was haben deine Augen für eine Frage getan?
Außer unseren Schritten war nichts zu hören. Rechts und links spiegelten sich unsere Konturen im Wasser. Ich blieb stehen.
»Da hinten, am Ende des Sees, siehst du die Berge?«
»Ich dachte, es sind Wolken.«
»Nein. Es sind Berge. Die höchsten Berge der Schweiz. Das Spitze da, das ist der Pilatus. Kannst du die Konturen erkennen?«
»Jou.«
»Und dahinter sind Mönch, Eiger und Jungfrau. Ich werde sie dir irgendwann zeigen. Sie sind immer schneebedeckt. Auf die Jungfrau kann man rauf fahren, bis ganz oben hin. Ewiges Eis, endlose Gletscher … willst du das erleben?«
»Yes, Mam.«
Unsere Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Auf dem Wasser vor uns trieben schlafende Enten und Schwäne. Einige davon gaben verwunderte Quaklaute von sich.
Es war kein bisschen unheimlich. Es war völlig selbstverständlich, nachts um halb zwei in Luzern über die berühmte Holzbrücke zu gehen und auf die Berge am Horizont zu sehen. Ich war plötzlich sehr stolz, Emil so etwas Schönes zeigen zu können. Nachdem ich ihm soviel Chaos zugemutet hatte, soviel Oberflächliches und Unwichtiges, fand ich, dass dies hier sehr, sehr wichtig war. Und da spielte die Uhrzeit überhaupt keine Rolle. Ich hätte ihn gern in den Arm genommen. Mütterlich, natürlich. Aber ich traute mich nicht.
Wir gingen zum Auto zurück.
Die Kinder schliefen fest.
Wir stiegen ein und fuhren davon.
Und sprachen kein einziges Wort.
Eine Stunde später zeigte ein Schild, dass wir fünf Kilometer vor dem Gotthardtunnel waren. Kann sein, dass das Schild durchgestrichen war. Ich erinnere mich nicht mehr.
»So flüssig bin ich noch nie durchgekommen«, jubilierte ich. »Dass aber auch so gar kein Mensch auf der Straße ist!«
»Hm …«
»Seit Stunden sind wir die einzigen Menschen auf der Welt! Ist dir das schon aufgefallen?«
Emil zuckte die Schultern. »Bei uns in Südafrika ist das normal, dass man stundenlang keinen anderen Menschen trifft. Da fährst du manchmal drei Tage und Nächte durch das Land und begegnest keinem.«
Der Mond leuchtete nicht mehr so intensiv. Dunkle Wolkenfetzen schoben sich immer wieder davor. Das Wetter wurde schlechter. Das Thermometer im Wagen zeigte nur noch vier Grad Außentemperatur.
»Ich wundere mich, dass uns auch keiner entgegenkommt … reich mir bitte noch mal den Kaffee.«
Es war so eine geniale Idee gewesen, nachts zu fahren! Das würde ich in Zukunft immer machen!
»Sechzehn Kilometer Tunnel«, sagte ich zu Emil. »Da ist mir jedes Mal etwas bang. Ich stelle mir immer vor, die Berge könnten mir auf den Kopf fallen. Aber warte es nur ab. Wenn wir erst auf der anderen Seite rauskommen, ist es viel wärmer! Fast immer ist auf der Südseite noch Sommer, während auf der Nordseite schon Winter ist! Ach, ich freu mich so auf das Tessin! Wenn du irgendwo in Europa das Paradies findest, dann im Tessin!«
Emil antwortete nichts. Was sollte er auch antworten.
Und dann musste ich plötzlich scharf bremsen. Eine rote Schranke. Mitten auf der Autobahn! Hier Welt zu Ende. Stopp. Und auf einem Schild warnende Hände. Gottardo chiuso.
Was sollte das heißen, Gottardo chiuso? Drei Uhr nachts! Wieso Gottardo chiuso?! Völlig ratlos fuhr ich an den Rand.
Emil sah mich fragend an.
»Der Tunnel ist zu!«, sagte ich fassungslos.
Emil zuckte die Schultern.
»Was mache ich denn jetzt?«
Schweigen. Was sollte Emil mir auch raten? Wenden und nach Hause fahren? Achthundert Kilometer? Ach Gott, wenn doch Senta jetzt hier wäre! Der wäre bestimmt was eingefallen, die hätte über ihr Handy den ADAC angerufen oder so was Sinnvolles, aber ich hatte keinen Empfang, das sah ich genau,
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