Der Gentleman
sich schwer der Geruch des Harzes und frischen Holzes ins Tal herab. Und da vor kurzem noch ein leichter Sprühregen auf das Land herniedergegangen war, glänzten die Straßen, in deren Pfützen sich die runde Scheibe des Mondes spiegelte. Von den Ginsterbüschen trennten sich letzte Regentropfen und fielen zu Boden. Es war, als hätte jeder Tropfen seinen eigenen leisen Klang und vereinigte sich mit dem der anderen zu einer süßen, klingenden Frühlingsmelodie.
Robert Sorant, der den Rat des Briefes nicht befolgt hatte, schritt durch die Nacht, genoß die vom Regen gereinigte frische Luft, hatte den hellen Staubmantel geöffnet und die Hände in den Jackettaschen vergraben.
Er pfiff ein Liedchen, ein kindliches Liedchen von der Blume, die ein Baum sein wollte. Solche ausgefallenen Sachen liebte er, Dinge, die einer übersprudelnden Phantasie entsprangen und bei biederen Bürgern kopfschütteln hervorriefen.
Dann war er am Ziel: Kölner Straße 20. Es war ein hoher Sandsteinklotz, die ehemalige Villa eines Millionärs. Irgendwann war sie in verschiedene Wohnungen aufgeteilt worden. Eine imposante Steintreppe führte zum Haupteingang hinauf. An der linken Seite des Hauses gewahrte Sorant eine weitere, kleinere Tür. Dunkel, lautlos und mächtig stand das Gebäude in einem großen Garten. Es schien zu schlafen. Kein Licht, kein Ton – nichts.
Robert Sorant blieb am Fuß der Treppe stehen und fragte sich ein letztesmal: Soll ich – soll ich nicht?
Er war jedoch nicht der Mann, der Angst vor seinem eigenen Mut bekommen hätte.
Wie aber stand's um Lucia Jürgens? Was würden die Leute über sie sagen? Die anderen Hausbewohner, die Nachbarn? Ihm, einem Bohemien (mehr oder minder!) aus Köln konnte das egal sein – nicht aber ihr! Altenbach, das brave, saubere Städtchen, war ein Ort, in dem jeder wußte, was der Nachbar auf dem Mittagstisch stehen hatte. Und wenn nun ein junger Mann um zwölf Uhr nachts bei einem unbescholtenen Mädchen …
Robert Sorant ertappte sich bei dem Gedanken, ob dieses Fräulein Lucia Jürgens wirklich noch ein unbescholtenes Mädchen war.
Bestimmt nicht! versicherte er sich im stillen selbst und schritt die große Steintreppe hinauf, suchte an den Schildchen und drückte auf den Knopf neben ›Lucia Jürgens‹.
Rabiat laut scholl der Schrei der Klingel durch das stille Haus, so daß Robert erschrak und nun doch noch einmal seine Knöpfe abzählte, ob es nicht besser wäre, einen stillen Rückzug anzutreten. Da aber seine Knöpfe bei ›nein‹ aufhörten, betrachtete er das als Wink des Schicksals und drückte noch einmal auf den Knopf.
Wieder derselbe Lärm …
Und wieder nichts …
Dem Schlaf des Hauses schien kein Abbruch getan zu werden.
Ist die gar nicht da? fragte sich Robert. Wo treibt sie sich denn herum, mitten in der Nacht? Schämt sie sich nicht? Denkt sie nicht an die Leute, die Nachbarn? Ein junges Mädchen muß doch auf seinen Ruf achten!
Um sicherzugehen, entschloß er sich zu einem dritten Versuch und drückte den Daumen längere Zeit auf den Knopf. Der Krach der Klingel im Haus war höllisch. Und plötzlich, ganz plötzlich brach er ab – wie abgeschnitten!
Robert Sorant war überrascht, guckte verdutzt, dann grinste er. Sieh mal einer an, sagte er sich, die ist ja doch da; nun hat sie die Klingel abgestellt; sie glaubt, sich damit retten zu können.
Doch nicht bei mir …
Der gute Robert Sorant drehte ein bißchen durch. Er fühlte sich herausgefordert, und immer, wenn das der Fall war, mußte bei ihm mit schlimmen Ergebnissen gerechnet werden – so auch diesmal.
Schon in der Volksschule hatte der Lehrer jedesmal Schwächeanfälle erlitten, wenn der kleine Robert in der Musikstunde seinen Mund zum Singen geöffnet hatte. Nach dem Stimmbruch des Knaben hatte sich das so sehr verschlimmert, daß er auf dem Gymnasium vom Singen befreit worden war und im Abiturzeugnis in diesem Fach einen kleinen, schamhaften Strich bekommen hatte. Es war eben so, daß die Sangestöne der Kehle Sorants, wenn diese zum Einsatz gebracht wurde, wohl die Gewalt der Posaunen von Jericho besaßen, aber den Klang einer ausgedienten Eisenfeile. Und das sollte die arme Lucia Jürgens nun erfahren müssen.
Robert Sorant entschloß sich nämlich, um sich die Dame gefügig zu machen, zu einer entsprechenden Darbietung. Ohne an irgendeine andere Folge als die erwünschte – bei der Nachbarschaft etwa – zu denken, stellte er sich in Positur, räusperte sich, holte tief Luft, öffnete
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