Der Gentleman
Dieser allgemeine Zustand konnte schon vor Mitternacht verzeichnet werden. Auch von den Damen muß leider gesagt werden, daß sich Lucias Voraussage, sie würden nicht viel zu sich nehmen, nur zur Hälfte bewahrheitete. Sie aßen wenig, das stimmte; sie müßten auf ihre Figur achten, sagten sie ohne Ausnahme. Die Kalorien aber die sich im Alkohol versteckten, scheuten sie nicht. Getrunken wurde von ihnen, was das Zeug hielt. Dies gehöre zur Emanzipation, lautete ihre Erklärung. Das Ruhrgebiet ginge diesbezüglich anderen Gegenden voran.
»Welche ist denn eigentlich deine Schulfreundin?« fragte Robert um neun Uhr bei einem Tanz Lucia, nachdem das Ganze, wie schon erwähnt, um sieben herum begonnen hatte.
»Die ohne BH, die dir dauernd schöne Augen macht.«
»Eine äußerst mangelhafte Beschreibung. BH hat hier, soviel ich sehe, keine an, und schöne Augen macht mir jede, das liegt in der Natur der Sache.«
»Sei nicht so eingebildet.«
»Meinst du die, der es schon seit einer Stunde viel zu heiß ist hier?«
»Das sagte sie schon ein paarmal, ja.«
»Wahrscheinlich will sie sich ausziehen, das kündigt sie damit an. Ist das im Ruhrgebiet so üblich?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Kommst du nicht aus dem Ruhrgebiet?«
»Heinz!!« Lucia löste ihre Linke von seiner Schuld und deutete an, ihm die Augen auskratzen zu wollen. Robert hatte auch schon einige Gläser intus.
»Wer heißt hier Heinz?« fragte er.
»Du! Ich spreche mit dir!« Lucia's Betonung lag auf dem ›du‹ und ›dir‹.
»Ich heiße –«
Im letzten Moment fing er sich und brach ab. Ein Blick in Lucias Gesicht sagte ihm aber, daß er sich damit nicht begnügen konnte. Ihr erwachtes Mißtrauen flackerte in ihren Augen. Doch zu was war er denn Schriftsteller, ein Mann mit Fantasie also? Im Handumdrehen fiel ihm das Nötige ein.
»Ich heiße eigentlich Heinrich«, berichtete er, »das wollte ich dir schon lange sagen …«
»Heinrich?«
»So steht's in allen Urkunden des Standesamts. Gerufen wurde ich allerdings immer schon Heinz, zu Hause, in der Schule, überall.«
»Wie denn das?«
»Schuld daran sind meine Eltern. Sie fanden den Namen Heinrich von jeher fürchterlich. ›Heinrich, mir graut vor dir …‹ In diesem Sinne, verstehst du? Daher ihre Zuflucht zu ›Heinz‹.«
»Aber warum haben sie dich denn dann überhaupt Heinrich getauft?«
»Der Name wurde ihnen aufgezwungen.«
»Aufgezwungen?«
»Es gab in unserer Familie einen reichen Erbonkel …«
»… und der hieß Heinrich«, fiel Lucia ein, litt sie doch an keinem Mangel an rascher Auffassungsgabe, mit der allerdings eben jetzt in enormer Weise Schindluder getrieben wurde.
»Sehr richtig«, bestätigte Robert alias Heinz alias Heinrich. »Und dieser bestand darauf, daß der Name Heinrich aus unserer Familie, unserem Stamm, nicht gänzlich verschwinden darf. Kinder hatte er selbst keine, so traf mich das Los. Die Alternative wäre gewesen, daß er seinen Besitz dem Tierschutzverein vermacht hätte. Damit zur rechten Zeit zu drohen, hat er sich jedenfalls nie gescheut.«
»Deinen Eltern blieb also gar nichts anderes übrig«, erklärte Lucia mitfühlend.
»Nein.«
»Hat es sich denn auch rentiert?«
»Du meinst, ob das Erbe entsprechend groß war?«
»Ja.«
Sorant offenbarte einen schweren Charakterfehler. Seine Lust am Fabulieren kannte keine Grenzen. Es war ihm immer noch nicht genug, er trieb die Sache auf die Spitze.
»Das Schönste ist«, sagte er, »daß wir am Ende alle in die Röhre geguckt haben. Der gute Onkel Heinrich ging nämlich nach dreißigjähriger Witwerschaft im Alter von 78 Jahren noch einmal auf Freiersfüßen. Eine jugendliche Rothaarige hatte ihm's angetan mit ihrem Feuer. Zehneinhalb Monate nach der Hochzeit segnete er das Zeitliche, seine Gattin als Universalerbin hinterlassend. Gegen sein Testament war nicht anzukämpfen. Ein Rechtsanwalt, der ihm von seiner Frau rechtzeitig zugeführt worden war, hatte es ihm abgefaßt. Drei Tage nach Ablauf des Trauerjahres traten die beiden in den heiligen Stand der Ehe.«
»Welche beiden?«
»Der Anwalt und die Rothaarige.«
Lucia lachte, meinte aber: »Du lügst!«
»Mit keinem Wort, meine Liebe.«
»Die haben wirklich geheiratet?«
»Drei Tage nach Ablauf des Trauerjahres!«
»Haben Sie auch Kinder bekommen?«
»Einen Sohn.«
»Und der heißt?«
»Heinz.«
Auf Lucias verstärktes Gelächter wurden alle aufmerksam, da es zusammenfiel mit dem Auslauf der Schallplatte, zu deren
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